«War das Leben Bonhoeffers vollendet?»

Jürgen Werth (links) schreibt Dietrich Bonhoeffer in die Vergangenheit
Vor 80 Jahren wurde der Theologe Dietrich Bonhoeffer von den Nazis hingerichtet. Jürgen Werth hat ihm aus der Gegenwart Briefe ins Gefängnis geschrieben: Einen fiktiven Dialog über existenzielle Fragen, gute Mächte und eine unbesiegbare Pest.

Ihr erstes Buch von Dietrich Bonhoeffer haben Sie im Alter von 16 Jahren gekauft – «Widerstand und Ergebung». Darin sind Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft gesammelt. Sie haben in einem eigenen Buch Bonhoeffer auf seine Briefe geantwortet. Warum?
Jürgen Werth: Damals hatte ich den Eindruck, dass mich diese Briefe dem Menschen und dem Theologen Bonhoeffer näherbringen, weil er sehr persönlich schreibt und sich nicht in hohen theologischen Sphären bewegt, sondern die Theologie herunterbricht in einen sehr schwierigen Alltag. Das hat mich tief berührt. Warum sollte ich nicht auch Briefe an ihn schreiben? Es hat für mich sehr gut funktioniert, mich ihm so zu nähern.

Sie schreiben ihm, dass es anstrengender geworden ist, über Gott zu sprechen. Können Sie das wirklich sagen? Bonnhoeffer hat immerhin mit seinem Leben bezahlt, weil er seinen Glaubensüberzeugungen folgte.
Es ist schwieriger geworden, weil man heute nicht mehr viel voraussetzen kann. Das konnte man im Nationalsozialismus auch nicht, weil der christliche Glaube ausgetrieben worden ist. Dies geschah auch später in vielen kommunistischen Regimen, auch in der DDR. Was dazu führt, dass heute viele Menschen, die dort aufgewachsen sind, wirklich überhaupt nichts über den christlichen Glauben wissen. Das, woran wir uns jetzt in der Karwoche erinnern, Kreuzigung, Auferstehung, Sündenvergebung, durch Gnade zu Gott zu kommen – viele Menschen in unserem Land wissen nichts mehr davon. Gleichzeitig ist es vielleicht auch eine Chance, weil man nicht mehr auf so viele Vorurteile stösst, die man erst einmal überwinden muss.

Können Sie bei Bonhoeffer Ratschläge finden, wie man über den Glauben spricht?
Ich finde es so sympathisch bei Bonhoeffer, dass er selber um diese Frage ringt und nicht weiss, wie es geht. In manchen Briefen schreibt er: «Ich hätte jetzt eigentlich etwas sagen sollen, aber ich habe nichts über meine Lippen bekommen, weil ich den Eindruck hatte, dass das, was ich jetzt sage, nicht passt. Die Leute verstehen das nicht.» Und das kenne ich so gut. Manchmal bekomme ich auch nichts über meine Lippen, weil ich denke, mein Gegenüber versteht gar nicht, was ich sagen möchte. Und ich versuche immer, im Kopf und in der Seele eines anderen zu Hause zu sein, bevor ich etwas sage. Ich schreibe Bonhoeffer dann tröstend, dass es manchmal viel hilfreicher sein kann, dass jemand nur zuhört und einfach da ist, auch sagt: Ich bete dafür. Wir müssen vielleicht erst einmal an den Punkt kommen, an dem die Leute völlig neu Fragen stellen, bevor wir anfangen, sie zu beantworten.

An anderer Stelle gehen Sie auf Bonhoeffers Idee eines «religionslosen Christentums» ein und sagen «Ich bin dabei».  Was bedeutet das – und warum finden Sie das gut?
Das ist ein sehr komplexer Gedanke, Bonhoeffer selbst ist damit nicht ans Ende gekommen. Er schreibt in langen Briefen an seinen Freund Eberhard Bethge, ebenfalls ein Theologe, darüber. Sein Gedanke ist, wenn ich es richtig verstehe, dass Religion, wie man sie gekannt hat, zu Ende geht, weil sie keine Antworten hat. Mit «Religion» meint er, dass wir uns an bestimmte Regeln halten und versuchen, einen Gott im Himmel durch unser Leben auf der Erde einigermassen gnädig zu stimmen.

Ich bin hier deswegen dabei, weil ich schon beim ersten Lesen des Buches verstanden habe, dass das Christentum nicht wirklich eine Religion ist. Religion bedeutet: Menschen versuchen, durch ein gottesfürchtiges Leben Gott gnädig zu stimmen und dafür vielleicht Segen, Gnade und Wohlstand zu erhalten. Während der christliche Glaube besagt, dass wir keine Chance haben, durch eigenes Tun zu Gott zurückzukehren. Gott ist unendlich weit weg. Und selbst wenn wir uns anstrengen, genügen wir seinen Massstäben nicht. Aber Gott kommt zu den Menschen. Er wird Mensch in Christus selbst, er stirbt stellvertretend für all das, wo wir Gott nicht genügen. Er nimmt die Strafe, die wir selbst verdient hätten, auf sich, und macht den Weg frei, damit wir zu Gott kommen können, indem wir einfach dieses Geschenk seiner Gnade annehmen. Das ist völlig religionslos.

Auf der anderen Seite muss man natürlich ehrlich sagen: Es gibt auch im christlichen Glauben, wie wir ihn vorfinden, viel Religiöses. Denn dieser Gedanke «Ich muss Gott gnädig stimmen» steckt in vielen von uns. Wenn etwas schief geht, fragen wir uns: Habe ich etwas falsch gemacht? Bestraft Gott mich für etwas? Oder wir glauben, bestimmte Riten und äusserliche Regeln einhalten zu müssen. Ich denke, wir müssen gegen alles «Religiöse» ankämpfen. Aber wie Bonhoeffer bin ich mit diesem Gedanken noch nicht fertig.

Aber gerade Rituale können als religiöse Elemente dem Glaubensleben eine gewisse Stabilität und Orientierung verleihen.
Ja, ich möchte nichts gegen Rituale sagen. Ich liebe Rituale und die Liturgie in unseren Gottesdiensten. Jeder von uns braucht welche. Nur: Diese Rituale helfen nicht, Gott zu gefallen. Sie helfen mir, zu erkennen, dass Gott da ist, dass er mich liebt, dass ich nicht allein auf dieser Welt bin, dass mein Leben ein Ziel und einen Zweck hat.

Sie schreiben Bonhoeffer auch vom Buch «Die Pest» von Albert Camus, einem französischen Schriftsteller. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
Ich mag die Bücher von Albert Camus sehr, weil er sehr radikale Fragen stellt. Und dann bin ich beim Schreiben meines Bonhoeffer-Buches über «Die Pest» gestolpert und dachte: Was Camus beschreibt, ist das, was Bonhoeffer gerade erlebt. Die Pest ist ein Bild für ein System, das Menschen unterdrückt, das sie einsperrt. Camus schreibt dies zur gleichen Zeit, als Bonhoeffer im Gefängnis ist. Das Buch wurde erst später veröffentlicht, Bonhoeffer konnte es nicht lesen, er hat Camus nie getroffen. Sie lebten in zwei verfeindeten Völkern. Camus war Atheist. Bonhoeffer war es nicht. Aber sie stellten ähnliche Fragen und litten ähnlich an dieser Welt. Und sie versuchten auf ähnliche Weise Antworten zu finden, nämlich sich dieser Welt mit Empathie zu nähern.

In Camus’ Roman gibt es den Arzt Dr. Rieu, der gegen die Pest kämpft, der sich für Menschen einsetzt. Der Arzt setzt sich selber der Gefahr, dem Tod aus, um andere vor dem Tod zu retten – ein Motiv, das auch bei Bonhoeffer eine wichtige Rolle spielt. Ich denke, wenn er das Buch gelesen hätte, hätte er das mit grosser Freude getan. Und ich erzähle ihm in meinen Briefen ein bisschen darüber, weil er nicht die Gelegenheit dazu hatte.

Wenn Sie das, was Bonhoeffer erlebt hat, und das, was Camus in seinem Buch beschreibt, zusammenführen – welche Erkenntnisse können wir heute daraus ziehen?
Zur Zeit Bonhoeffers hat die Ideologie des Nationalsozialismus alles durchdrungen und die Menschen in ein bestimmtes Gedankengebäude eingesperrt. Wer nicht darin leben wollte, wurde wie ein Aussätziger behandelt und, wie es Bonhoeffer am Ende widerfuhr, oft genug getötet. Wir müssen darüber nachdenken, in welchem Gedankengebäude wir gerade gefangen sind. Die Pest, damit schliesst das Buch von Camus, ist nicht endgültig besiegt. Sie lauert immer noch in den Mauerritzen und eines Tages könnte sie wieder herauskommen. Damit ist auch die Pest des Nationalsozialismus gemeint, die Pest des Faschismus, die Pest eines menschenverachtenden Denkens: Sie lauert immer noch in den Ritzen unserer Gesellschaft und vielleicht kann man sie auf Dauer nie besiegen. Die Antwort kann nur lauten: Wir müssen sehr wachsam sein. Wo wird es kälter? Wo keimen totalitäre Gedanken? Ob sie von links oder von rechts kommen, spielt keine Rolle. Wo werden Menschen vernachlässigt? Wo werden Menschen misshandelt? Die Pest ist immer noch überall im Gange und wir müssen aufpassen.

Im Moment wird Bonhoeffer in den USA von den rechten politischen Kräften zum Idol gemacht. Wie bewerten Sie das mit Blick auf dieses Bild der Pest?
Bonhoeffer sollte in den 80 Jahren nach seinem Tod immer wieder vereinnahmt werden. Von Linken und Rechten. Seine Theologe hat das bis heute überlebt. Sie wird es auch weiter tun.

Am Ende des Buches stellen Sie ein Gedicht von Bonhoeffer vor, das er über den Tod von Mose geschrieben hat. War Bonhoeffer ein moderner Mose?
Bonhoeffer hat, glaube ich, schon gesehen, dass ein neues Deutschland am Horizont dämmert. Denn eigentlich war allen informierten Menschen 1944 und schon davor bewusst, dass der Krieg verloren war und der Nationalsozialismus nicht überleben würden. Aber Bonhoeffer kommt nicht rein in dieses neue Deutschland. Wie Mose nicht reingekommen ist in das gelobte Land. Mich hat die Frage bewegt: War das Leben von Mose vollendet? War das Leben von Bonhoeffer vollendet?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Wann ist ein Leben eigentlich vollendet? Wenn man alt und lebenssatt stirbt? Oder kann ein Leben mit 39 schon vollendet sein? Man kann Bonhoeffer nicht mit Mose vergleichen, weil er diese Funktion in Deutschland nicht hatte. Er war nicht jemand, der vorausgegangen ist. Aber er hat vorausgedacht, was eigentlich mit dieser Welt passiert und worum es in ihr geht.

Sie schreiben in einem Brief, dass Sie von Bonhoeffer Dankbarkeit lernen. Wodurch geschieht das?
Es gibt so viele Kleinigkeiten, für die er sich immer wieder bedankt – für das, was seine Familie ihm in die Zelle bringen lässt, von einem kleinen Kuchen angefangen, über Musik und Bücher. Und er ist dankbar für Gebete und für freundliche Worte. Er ist für eine Amsel dankbar, die draussen im Gefängnishof singt. Ich glaube, die Reduktion des Lebens öffnet die Augen und alle Sinne völlig neu für das, was es auch in einem so eingeschränkten Leben immer noch an Schönem gibt. Dinge, die wir, die wir jeden Tag die Fülle des Lebens haben, gar nicht wahrnehmen.

Ich zitiere auch einen Satz von Mutter Teresa, der besagt: «Wenn du nur Jesus hast, dann entdeckst du, dass du nur Jesus brauchst.» Dankbar zu sein, dass ich in den tiefsten Tiefen nicht allein bin und dass er da ist und dass er meine Hand hält und dass er mir das ganz konkrete Zeichen seiner Liebe immer wieder gibt, vielleicht durch den Gesang einer Amsel – das wirst du nur entdecken, wenn du wirklich auf das Wesentliche des Lebens reduziert wirst. Aber davon lerne ich, auch meinen Alltag dankbarer zu erleben.

Das berühmteste Gedicht von Bonhoeffer ist «Von guten Mächten wunderbar geborgen». Sie haben auch darauf geantwortet. Was bedeutet das Gedicht für Sie?
Eine Sache fiel mir immer sehr schwer, wenn ich auf seine Briefe geantwortet habe und in seine Zelle schrieb. Nämlich, dass ich immer gewusst habe, wie seine Geschichte ausgeht, aber er natürlich nicht. Er wird es sicherlich geahnt haben, aber er hat es sehr selten formuliert. In diesem Gedicht aber schon: »Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern, des Leids gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus deiner guten und geliebten Hand.» Das Lied ist vertont worden von Siegfried Fietz, und es wird viel gesungen. Ich habe diesen Vers oft nicht richtig mitsingen können. Ich habe mich nicht getraut, weil ich dachte: Ja, ich weiss, dass es irgendwann auch in meinem Leben diesen Kelch des Leidens geben könnte; aber dass ich ihn dankbar und ohne Zittern aus Gottes Händen nehmen könnte, das will ich nicht versprechen, während ich das singe. Aber Bonhoeffer hat es offensichtlich getan.

Die letzten Worte, die von ihm überbracht wurden, waren: »Das ist das Ende. Für mich der Beginn des Lebens.» Ich denke, dass man eine solche Zuversicht erst dann geschenkt bekommt, wenn man sie wirklich nötig hat, wenn einem alles genommen wird. Dass man es dann aber weiss: Ich bin von guten Mächten, von den guten Händen Gottes geborgen, und ich kann deshalb getrost annehmen, was mir zugedacht ist.

Dieser Artikel erschien auf Pro Medienmagazin.

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Autor: Jonathan Steinert
Quelle: Pro Medienmagazin

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