«Ich verachtete Christen – bis ich selbst einer wurde»
Wenn Menschen um ihn erzählen, dass sie bereits mit dem Kinderwagen in eine christliche Gemeinde hineingeschoben wurden, muss Sy Garte lächeln. Er kommt von der anderen Seite. Er war ein «red diaper kid» (ein Kind mit roten Windeln) und seine gesamte Familie bekannte sich zum Stalinismus. Dass Professor Dr. Seymour «Sy» Garte, ein anerkannter Biochemiker aus den USA, sich heute in einer Methodistenkirche engagiert und Menschen zum Glauben einlädt, hat eine entsprechend lange Vorgeschichte.
Ein Kind der Revolution
«Wenn es je ein hingegebenes Kind der Revolution gab, dann war ich das», fasst Sy Garte seine Kindheit zusammen. Sein Grossonkel kämpfte in der russischen Oktoberrevolution, ein Grossvater gründete die Gewerkschaft der Polsterer in Boston, USA, alle Grosseltern waren kommunistisch geprägt, und auch die Eltern wurden als überzeugte Stalinisten Mitglieder in der Kommunistischen Partei. Diese Parteizugehörigkeit gaben sie in der Nachkriegszeit auf – ihre Überzeugungen nicht. Seine Kindheit in einem kommunistisch und atheistisch geprägten Elternhaus im New York der 1950er und 60er Jahre beschreibt Garte deshalb als «bestenfalls schwierig».
Der gebürtige Jude setzte nie einen Fuss in ein Gotteshaus. Sein Vater hatte ihm zwar das Fragen und Hinterfragen beigebracht, aber auch die Überzeugung, dass die sichtbare Welt alles sei. «Atheist war kein Wort, das man auf der Strasse hörte, aber genau das war ich», betont Garte im Rückblick. Auch in seiner irisch-katholisch geprägten Umgebung fand er Gleichgesinnte, sang Arbeiterlieder mit, diskutierte über Bürgerrechte und engagierte sich für Kuba. 1973 wurde die Szene radikaler und gewalttätiger, und Garte ging auf Distanz. Als Joe, der eigentlich anders heisst, Geld für seine Flucht vor der Polizei brauchte, half er dem Freund, doch er selbst hielt sich von Gewalt und Drogen fern. Von Joe hörte er lange nichts mehr.
Nebenwirkungen der Wissenschaft
Garte studierte Biochemie. Er forschte und lehrte an verschiedenen Universitäten und verfasste Hunderte von Fachaufsätzen, Artikeln und Büchern. Nichts in seinem wissenschaftlichen Umfeld lud ihn direkt zum Glauben ein, aber sein Hinterfragen und das wissenschaftliche Denken führten dazu, dass er die Idee des rationalistischen Materialismus ebenfalls als eine Art von Glauben entlarvte. Wenn der Mensch nur blindes Produkt des evolutionären Zufalls wäre, wie könnten dann die erklärten Ziele des Sozialismus – zum Beispiel die Förderung der Menschenwürde – einen Sinn ergeben? Und wenn das Christentum tatsächlich solch ein schreckliches historisches Übel war, warum engagierten sich so viele Christen in der Bürgerrechtsbewegung?
Seine Neugier «auf dieses Ding namens Spiritualität» wuchs. Über viele Jahre hinweg entwickelte sich Garte vom strengen Atheisten hin zum Agnostiker und schliesslich zum hoffenden Theisten. Am Anfang stand die Überzeugung, dass Gott ein Märchen und die Bibel (die er nie gelesen hatte) ein manipulatives Machwerk sei. Doch grosse offene Fragen der Wissenschaft nährten Zweifel bei Garte – genauso wie das Kennenlernen kluger und gleichzeitig gläubiger Christen. Garte besuchte Gottesdienste und fand sie hilfreich und gut, er las die Evangelien und fand sie inspirierend und offensichtlich wahr. Gleichzeitig hatte er Bedenken, selbst gläubig zu werden.
Über die Schwelle gezogen
Viele Jahre vergingen, und Garte blieb in seiner abwartenden Haltung. Das änderte sich erst während einer Autofahrt. Er schaltete das Radio ein und hörte die Stimme eines der christlichen Predigers, über den er sich gern lustig machte. Trotzdem hörte er ihm ein paar Minuten lang zu. Nachdem er ausgeschaltet hatte, drehten sich die Gedanken in seinem Kopf. Wie er wohl klingen würde, wenn er predigen müsste? Wenn er darüber spräche, was in seinem Leben Bedeutung hätte? Plötzlich sah er es plastisch vor sich. Er sprach darüber, dass Gott die Wissenschaft benutzt, um die Welt zu erschaffen. Er hörte sich selbst über die Liebe von Jesus reden und darüber, dass alle durch sein Opfer am Kreuz gerettet werden können. Längst hatte er angehalten. Irgendwann sass Garte weinend am Steuer seines Autos, weil er realisierte, dass er gar nicht selbst gesprochen hatte. «Es» hatte aus ihm gesprochen. Scheinbar war der Heilige Geist auf dramatische Weise in sein Leben getreten und hatte ihn «über die Schwelle gezogen». Garte dankte Gott und meinte zu ihm: «Ich glaube, und ich bin gerettet. Ich danke dir, Herr Jesus Christus.»
In der Folge liess sich der Professor taufen und engagiert sich seitdem in seiner Methodistenkirche. Seit er im Ruhestand ist, bezeichnet er sich als Online-Evangelisten, schreibt Bücher über das Zusammenspiel von Glauben und Denken und gibt im Rahmen der «American Scientific Affiliation» das Magazin «God and Nature» heraus.
«Du auch?»
Seitdem der ehemalige Atheist über Gott redet, denken manche, dass er wohl nie richtig ungläubig oder atheistisch gewesen sein könnte, er habe sich «nur» verändert. Er selbst weiss inzwischen: «Unsere Eltern waren keine bösen Menschen, auch wenn sie einer gescheiterten Idee folgten, die von zynischen Lügnern propagiert wurde. Sie dachten, sie würden etwas Gutes für die Menschheit und eine bessere Welt tun. Sie haben uns indoktriniert, einen Glauben zu verachten, von dem sie keine wirkliche Ahnung hatten. Sonst hätten sie vielleicht begonnen zu verstehen, warum einige ihrer Helden wie Pastor Martin Luther King Jr. die wahrhaft radikale Idee vertraten, alle Menschen zu lieben, sogar ihre erklärten Feinde.»
Gartes alter Freund Joe kämpfte jahrelang mit seinen Süchten und um sein Leben. Irgendwann lernte er eine Frau kennen, die ihm half. Sie heirateten, er wurde sesshaft und fand eine feste Arbeit. 45 Jahre nach der Trennung von seinem alten Freund fand er ihn auf Facebook und nahm neugierig Kontakt zu dem renommierten Wissenschaftler auf. Dabei outete er sich bald: «Sy, du wirst es nicht glauben, aber ich bin Christ.» Vielleicht hatte er mit einem zynischen Kommentar gerechnet, aber dieser konnte nur sagen: «Du wirst es kaum glauben. Ich auch.» Im Rückblick meint Garte dazu: «Ich glaube, als Jesus … diesen Social-Media-Austausch zwischen zwei alten Freunden gesehen hat, musste er lächeln.»
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