Spiritualität im Bundeshaus

«Auch ein Politiker sollte auf Gott hören»

Pfarrer Jörg Gutzwiller hat 1979 eine ökumenische Besinnung mit ins Leben gerufen. Der erste «Bundeshauspfarrer» ist überzeugt, dass Politiker Oasen der Ruhe und Besinnung brauchen.
Pfarrer Jörg Gutzwiller in seinem Heim.

Andrea Vonlanthen: Wie kam es, dass Sie sich als Theologe der Politik zuwandten?
Jörg Gutzwiller:
Ich habe zwei Leidenschaften: die Theologie und die Schweiz. Mit der Leidenschaft für Gott erlebt man Fügungen und Wunder. Darum habe ich mich gefragt, wie ich mithelfen könnte, eine andere Welt zu bauen. Im Alten Testament sagten es die Propheten klar: Ihr könnt euch von Gott führen lassen zu Frieden und Gerechtigkeit, oder ihr könnt Gott den Rücken kehren, doch dann taumelt ihr von Krise zu Katastrophe.

Was bewegte Sie dazu, die ökumenischen Besinnungen im Bundeshaus ins Leben zu rufen?
Da spielte meine Frau eine wichtige Rolle. Wir waren zwölf Jahre im Pfarramt in Wädenswil, als 1973 der Ruf nach Zollikofen bei Bern kam. Ich war so unsicher, dass ich an den Rand einer Depression kam. Da sagte meine Frau: «Vielleicht musst du nach Bern, um Verantwortung zu übernehmen für Führungskräfte des Landes und sie geistlich begleiten.» Das gab mir eine Perspektive. Nach den Wahlen von 1975 bot ich im Schloss Hünigen ein Wochenende für Verantwortungsträger aus Politik und Wirtschaft an. Der Titel: «Inspiration». Es kamen Leute aus allen vier Bundesratsparteien.

Das Echo war so positiv, dass bei ihnen der Wunsch aufkam, im Bundeshaus eine Besinnung einzuführen. Aber niemand wollte aktiv werden. Zu dieser Zeit gab Nationalrat Otto Zwygart senior in der Synagoge des Parlamentsgebäudes in Jerusalem ein Gelübde ab: Sollte er wiedergewählt werden, würde er im Bundeshaus eine Besinnung initiieren. Ende November 1979 war es dann so weit. Mir wurde zusammen mit Hans-Peter Röthlin, dem Informationsbeauftragten der Schweizer Bischofskonferenz, die Verantwortung übertragen.

Wie liefen die Besinnungen ab?
Ich habe über Nacht ein Papier entworfen. Die Besinnungen sollten 15 Minuten dauern und eine biblische Meditation, Stille und ein Gebet für Land, Volk und Regierung enthalten. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Und die Besinnungen sollen überkonfessionell sein und vom Parlament selber verantwortet werden.

Wie gross war das Interesse?
Wir waren gespannt an diesem ersten Morgen. Und die Leute kamen - etwa 25 Parlamentsmitglieder. Die Initianten waren so begeistert, dass sie dann auch die Bundesräte eingeladen haben.

Wer kam von den Bundesräten?
Es gab Besinnungen, da waren vier von sieben Bundesräten anwesend. Oft kamen Schlumpf, Ritschard, Hürlimann, Furgler und auch Friedrich. Auch Cotti, Koller und Ogi waren je nach Terminkalender dabei. Regelmässig luden die Bundesräte dann Hans-Peter Röthlin und mich noch zum Kaffee ein. Da kam es zu einem echten Austausch, auch seelsorgerlich.

Waren alle Parteien vertreten?
In der ersten Zeit kamen von den Linken nur Einzelne. Da traf ich in Berlin Alt-Bundesminister Hans-Jochen Vogel, prominenter Sozialdemokrat und überzeugter Christ. Er liess sich nach Bern einladen, um eine Besinnung zu halten. Da erschien SP-Chef Helmut Hubacher mit seiner ganzen Fraktion. Das war ein Durchbruch auch bei den Sozialdemokraten.

War das Parlament damals noch gottesfürchtiger?
Ich möchte es so sagen: Im Bundeshaus herrschte noch nicht so ein Riesenstress wie heute. Mehr und mehr ist es üblich geworden, Sitzungen schon um 7 Uhr anzusetzen. Es ist weniger eine Frage der Gottesfurcht als des massiven Drucks.

Welche Besinnung wurde zum Höhepunkt?
Das war sicher 1991 an der grossen Sondersession. Da wurde uns vor der vereinigten Bundesversammlung und dem Bundesrat in Corpore eine ganze Stunde für eine Besinnung zur Verfügung gestellt. Auf das Thema bin ich in der Nacht gekommen: Ich brachte das Beispiel von Henry Dunant, der sagte: «Ich wollte nur ein Diener Jesu Christi sein, sonst nichts.» Ich sprach darüber, was es bedeutet, im Geist Christi zu wirken. Am Schluss standen alle auf und beteten in ihrer Landesprache das «Unser Vater». Es war ergreifend.

Was heisst es, als Politiker vor Gott verantwortlich zu sein?
Wer sich vor Gott verantwortlich weiss, fragt Gott im Alltag, welches sein Wille und sein Plan ist. Um das herauszufinden, braucht man auch Mitchristen. Darum habe ich oft auch begleitende Seminare angeboten.

Mit welchen Gefühlen blicken Sie heute auf den Parlamentsbetrieb?
Ich bin in grosser Sorge, weil im Parlament immer mehr Interessenvertreter sitzen, die von grossen Verbänden finanziert werden. Wer zuerst einem Verband verpflichtet ist und vor allem die Wiederwahl im Kopf hat, ist nicht mehr frei. Auch ein Politiker sollte in erster Linie auf Gott hören und ihm gehorchen – und nicht einer Interessengruppe.

Welches ist heute Ihr Gebet für unser Land?
Gott möge unsere Volksvertreter leiten und ihnen durch seine Nähe Kraft und Weisheit schenken. Sie mögen seine Stimme hören und seine Führung wollen. Gottes Plan möge sich verwirklichen über Parteien und Personen hinaus zum Besten für unser Land, zum Frieden für die Welt.

Wie kann Gott die Schweiz segnen?
Wenn wir ihn suchen, ihn lieben, ihm gehorchen, ehrlich und demütig sind – dann segnet er uns.

Welche Prioritäten gelten für Sie heute?
Ich kann nicht mehr aktiv sein und nicht mehr reisen wie früher. Ich kann vor allem noch mitdenken, schreiben und beten. Das Gebet wird mir darum immer wichtiger, gerade auch das Gebet für die Besinnungen und die Regierung, aber auch für meine Frau, meine Kinder, Grosskinder und andere Menschen.

Was ist Ihre Liebeserklärung an das Leben?
Ich bin unendlich dankbar für alles, was mir Gott geschenkt hat, für meine Frau, für meine Familie, auch dass ich so alt werden durfte. Ich konnte so viel Abenteuerliches erleben, wie ich es nie erwartet hätte. Auch als Pensionierter konnte ich noch reisen und in vielen Ländern und Parlamenten von unseren Besinnungen berichten. In Wien bat mich der Vizekanzler gleich nach dem Bericht, ich solle noch mit ihnen beten. In Bukarest wurde ich von Parlamentariern gebeten, im Büro der ehemaligen Präsidentengattin Elena Ceausescu, die den Christenglauben verfolgte, eine Besinnung zu halten.

Welches ist der wesentliche Punkt Ihrer Altersbilanz?
Das Altwerden ist körperlich nicht immer leicht zu ertragen. Doch solange das Herz lebendig und der Geist klar sind, kann ich in Beziehung zu Christus leben und bin glücklich.

Jörg Gutzwiller, Geboren 1928 in Basel, verheiratet mit der ehemaligen Swissair-Hostess Judith Steiger, zwei Söhne, zwei Töchter, wohnhaft in Jegenstorf BE. Studium der evangelischen Theologie in Basel und Göttingen, 1952 Leben unter Bergarbeitern im Ruhrgebiet, 1953-54 in Bonn Engagement für die deutsch-französische Versöhnung an der Basis mit Arbeitern, Studenten, Politikern, 1959-60 Pfarrverweser in Riehen und Basel, 1961-73 Pfarrer in Wädenswil, 1973-1993 Pfarrer in Zollikofen BE. 1979-99 verantwortlich für die ökumenischen Besinnungen im Bundeshaus. Verfasser mehrerer Bücher.

Das ausführliche Interview kann bei «ideaSpektrum Schweiz», Ausgabe 22/12 nachgelesen werden.

Das Buch zum Thema:
Jörg Gutzwiller, «Oasen der Besinnung», Jordan-Verlag, Zürich

Datum: 05.06.2012
Autor: Andrea Vonlanthen
Quelle: Idea Spektrum Schweiz

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