Was braucht eigentlich mein Nächster?

Shane Claiborne
In Kensington, Philadelphia lebt Shane Claiborne, einer der Gründer von «The Simple Way». Die Lebensgemeinschaft sucht nach Wegen, Gottes Liebe in ihre Nachbarschaft zu tragen.

Hanna und Urs stecken die Köpfe zusammen: «Was machen wir eigentlich beim diesjährigen Suppenfest?» «Na, dasselbe wie letztes Jahr und die Jahre davor: Wir laden die Nachbarn ein, stellen Biertische in den Hof, schenken unsere Suppen aus und zeigen unseren Nachbarn damit, dass wir für sie da sind.» Es ist ein deutliches Signal, wenn eine Kirche oder Gemeinde sich in dieser Art auf den Weg zu ihren Nachbarn macht. Hanna freut sich auch immer noch über die Möglichkeit, die sie dazu haben, und die vielen Freiwilligen, die sich engagieren. Trotzdem lässt sie der Gedanke nicht los, ob inzwischen vielleicht etwas anderes dran sein könnte… Traditionen sind oft hilfreich, um Bewährtes weiterzumachen. Allerdings muss Nächstenliebe ihre Erscheinungsform immer wieder an die veränderten Umstände der «Nächsten» anpassen, denn es geht nicht darum, ein kirchliches Modell zu pflegen, sondern für andere da zu sein.

Nächstenliebe als Basis

Christen wissen sich dazu berufen, «den Herrn, deinen Gott, [zu] lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft», doch was sich richtig und abschliessend anhört, ist in Wirklichkeit nur die Hälfte der Aufgabe, die weitergeht mit «und deinen Nächsten wie dich selbst» (siehe Lukas, Kapitel 10, Vers 27). Um Gott wirklich zu lieben, muss man also auch seine Nachbarn lieben. Damit sind keine fiktiven Lieblingsmenschen gemeint, sondern die Nachbarschaft, wie sie leibt und lebt: unzufrieden, nörgelnd, unordentlich, zu ordentlich, mit sich selbst beschäftigt, zurückgezogen usw.

Diese Ausgangssituation führte vor inzwischen 26 Jahren dazu, dass sich eine Gruppe junger Christen in der US-Stadt Kensington dazu entschloss, eine Art klösterliche Lebensgemeinschaft in einem Wohngebiet zu starten, das von Armut, Kriminalität und Gewalt beherrscht wurde. Eines der Gründungsmitglieder und der kreative Kopf der «The Simple Way» genannten Gemeinschaft ist der Soziologe und Theologe Shane Claiborne, der auch in Europa mit seinen Büchern über radikale Nachfolge bekannt wurde. Sein Ziel war und ist es laut Cara Meredith, in einem «Netz subversiver Freunde zu leben, die sich verschworen haben, die Vision ‘Liebe Gott, liebe die Menschen und folge Jesus’ in ihrer Nachbarschaft zu leben und weltweit bekanntzumachen». Claiborne selbst ist nicht mehr in der Leitung von «The Simple Way», doch zusammen mit seinen Weggefährten engagiert er sich immer noch dort.

Einfach ist nicht einfach

Nach einem Vierteljahrhundert an gemeinsamen Erfahrungen sollte es dem Team in Kensington leichtfallen, Nächstenliebe zu leben. Das könnte man denken. Doch Tatsache ist, dass sie kein Programm abspulen möchten, sondern ihren Nächsten echte Liebe zeigen wollen. Und das ist gar nicht so einfach. Typisches Beispiel ist ein jährliches Event der Community: die Schulsachenaktion. Schülerinnen und Schüler von der ersten Klasse bis hin zu Jugendlichen erhalten hier Ranzen, Hefte, Stifte und alles, was man so für den Schulalltag braucht – und was eine einkommensschwache Familie vor Herausforderungen stellt. So organisierte die Lebensgemeinschaft grosse Schulpartys, feierte mit Hunderten Schülern und übergab ihnen dabei die gesammelten Schulsachen. Das Event machte allen Spass, doch viel Kontakt zu den Einzelnen entstand nicht. Dann kam die Coronazeit. Betreuerinnen und Betreuer besorgten die nötigen Materialien und verteilten sie persönlich. Die Beziehungen litten noch mehr. Nach der Pandemie änderten sie einiges, sodass sie wesentlich weniger Action veranstalteten, aber mehr Kontaktfläche zu den Kindern in der Nachbarschaft bekamen. Jetzt stimmte das Konzept wieder – jedenfalls für diesmal. Denn natürlich bleiben Erwartungen und Bedürfnisse in Bewegung.

Liebe bleibt in Bewegung

Da ist es gut, wenn auch die Liebe in Bewegung bleibt. Konzepte, die für alle Zeiten so bleiben werden, gibt es nicht. Es gilt immer wieder zu fragen: Was brauchen meine Nachbarn? Manchmal ist das vielleicht keine Einladung in den Gottesdienst, sondern eine zum Strassenfest mit gemeinsamem Würstchengrillen. Und manchmal ist es vielleicht keine Aktion, sondern Anteilnahme und Gebet. Das Schwierige – und gleichzeitig Befreiende – daran ist, dass es keine Konstanten gibt, ausser der Aufforderung, mit der Jesus das Gleichnis vom barmherzigen Samaritaner abschliesst, das dem obigen Vers folgt: «So geh du hin und handle ebenso.»

Zum Thema:
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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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