Sexualerziehung: Just do it

Schutzfaktor Schamgefühl

Babys und Kleinkinder geniessen Nacktheit unverschämt und viele Eltern sind überrascht, wenn ihre Vorschulkinder sich plötzlich in der Dusche einschliessen und um alles in der Welt nicht mehr mit den jüngeren Geschwistern in der Badewanne planschen wollen. Wie sieht ein hilfreicher Umgang mit kindlichen Schamgefühlen aus?
Nackte Frauenfüsse

Die Entwicklung des kindlichen Schamgefühls ist kein Resultat elterlicher Verklemmtheit, sondern eine Folge davon, dass das Kind sich immer mehr als eigenständige Person begreift und beginnt, seine Persönlichkeit gegen andere abzugrenzen. In der Regel entsteht Körperscham etwa im Alter von fünf Jahren und ist bei den meisten Kindern mit sieben Jahren ausgeprägt. Kinder darin ernst zu nehmen, ist entscheidend, denn Scham ist das Empfinden von Verlegenheit oder Blossstellung und entsteht da, wo die individuelle Schutzgrenze des Kindes verletzt oder überschritten wird.

Scham nicht übergehen, sondern achtsam sein

Schamgefühle sind etwas sehr Individuelles und nicht immer ist es für Eltern nachvollziehbar, warum das Kind sich schämt. Doch dies ist gar nicht die Frage; wenn ein Kind sich schämt, nehmen wir als Eltern diese Gefühle ernst und unterstützen das Kind dabei, seine persönlichen Grenzen zu behüten. Ein gutes Beispiel dafür ist der Umgang mit Nacktheit: Während viele Eltern es als aufgeschlossen und befreiend empfinden, zu Hause (fast) nackt herumzulaufen, kann dies für Kinder aufdringlich und störend wirken. Ein Teenagermädchen erzählte mir, sie finde es peinlich, dass ihr Stiefvater zu Hause immer in engen Boxershorts herumlaufe und vielen Heranwachsenden ist es gar nicht recht, wenn ihre Mütter sich am Strand «oben ohne» zeigen.

Oft tut es gut, zu versuchen, die Perspektive des Kindes einzunehmen: Ein nackter Mensch wirkt total anders, wenn man ihn aus der Höhe von nur 70 oder 80 Zentimetern sieht... Meine Faustregel dazu: Wenn Kinder sich uns nicht mehr nackt zeigen, wollen sie uns in der Regel auch nicht mehr nackt sehen. Lieber einmal zu oft ein Shirt überziehen, als meine Kinder in Verlegenheit bringen…

Unverschämte Eltern = unverschämte Kinder?

Werden kindliche Signale ignoriert oder wird dem Kind Nacktheit aus dem Wunsch, «modern» zu sein, aufgezwungen, kann dies das Gegenteil von dem bewirken, was bezweckt wurde: Die Abwehr des Kindes wird verstärkt. Zudem muss die Frage erlaubt sein, ob wir als Gesellschaft gegenwärtig nicht eher auf der Seite einer ziemlich geschmacklosen Schamlosigkeit «vom Pferd fallen». Der Zauber von Sexualität hängt ja unter anderem auch damit zusammen, dass sie das intime Geheimnis zweier Liebender ist.

Privat und öffentlich unterscheiden lernen

Während viele Kinder sich von alleine abgrenzen und ein gutes Empfinden für Nähe und Distanz, Öffentlichkeit und Privatsphäre zeigen, brauchen andere etwas mehr Unterstützung dabei, ihre Grenzen zu schützen. Unserer Sechsjährigen erklären wir, wo notwendig, dass sie sich zu Hause noch problemlos im Freien umziehen kann, während sie im öffentlichen Schwimmbad die Umkleidekabine benutzen soll. Auch dass man sich nicht jeder Person gleich an den Hals wirft oder auf den Schoss setzt, müssen manche Kinder lernen, während andere schon von ihrer Persönlichkeit her automatisch eher auf Distanz bleiben.

Nein ist Nein – auch wenn es um das Schamgefühl geht

Kinder in ihrer Scham ernst zu nehmen und ihnen zu ermöglichen, sich vor unerwünschten Blicken oder Berührungen zu schützen, ist für die Prävention von Missbrauch entscheidend. Dafür einzutreten, dass ein Nein ernst genommen wird, ist deshalb auch in Bezug auf die Hobbys unserer Kinder oder auf die Schule wichtig. Wenn ein Kind sich schämt, soll es nicht splitternackt mit anderen zusammen duschen müssen. Kinder müssen weder ihnen peinliche Fragen beantworten noch ihnen unangenehme Berührungsspiele über sich ergehen lassen. Weil viele Kinder sich nicht trauen, ihr Unbehagen zu äussern, sind wir als Eltern gefragt, um freundlich und konstruktiv mit Nachbarn, Freunden, Trainern oder Lehrern nach umsetzbaren Lösungen zu suchen.

Buchtipp:
Regula Lehmann, «Sexualerziehung? Familiensache!»

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Datum: 02.08.2019
Autor: Regula Lehmann
Quelle: Livenet

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