Mitternacht. Und die Tür ist zu...
Dann sagte Jesus zu den Jüngern: «Stellt euch vor, einer von euch hat einen Freund. Mitten in der Nacht geht er zu ihm, klopft an die Tür und bittet ihn: 'Leih mir doch bitte drei Brote. Ich habe unerwartet Besuch bekommen und nichts im Haus, was ich ihm anbieten könnte.' Würde der Freund dann von drinnen antworten: 'Stör mich nicht! Ich habe die Tür schon abgeschlossen und mich schlafen gelegt. Ausserdem könnten die Kinder in meinem Bett aufwachen. Ich kann jetzt nicht aufstehen und dir etwas geben.'? Doch bestimmt nicht! Das eine ist sicher: Selbst wenn er schon nicht aufstehen und dem Mann etwas geben will, weil er sein Freund ist, so wird er schliesslich doch aus seinem Bett steigen und ihm alles Nötige geben, weil der andere so unverschämt ist und ihm einfach keine Ruhe lässt.» (Lukas, Kapitel 11, Vers 5-8).
1. Angeklopft
Das Gleichnis ist eine echte Sandwich-Geschichte, denn es ist eingebettet zwischen zwei bekannteren Abschnitten. Direkt davor lehrt Jesus die Jünger mit dem Vaterunser den prominentesten Text der Bibel; direkt danach folgt die ebenfalls sehr bekannte Zusage: «Bittet, so wird euch gegeben; sucht, so werdet ihr finden; klopft an, so wird euch aufgetan…» (Lukas, Kapitel 11, Vers 9). Lukas hat diese drei Texte zum Gebet vereint und aufeinander bezogen, denn unser Gleichnis macht die Bitte ums tägliche Brot sehr praktisch und die anschliessende Zusage zum Klopfen an Gottes Tür bezieht sich direkt auf das Bild, das Jesus darin malt. Lukas ist übrigens der einzige Evangelist, der diese Geschichte erzählt.
Was uns heute exotisch oder seltsam vorkommt – an wessen Tür hat es in der letzten Zeit um drei Uhr morgens geklingelt? – war damals Alltag. Es war Alltag in einer Umgebung, in der es so heiss war, dass man am liebsten abends und nachts reiste. Es war Alltag in einer relativ armen Gesellschaft, wo man nicht in die Tiefkühltruhe greifen und Brötchen aufbacken konnte, wenn Besuch vor der Tür stand. Und es war Alltag, dass solcher Besuch kam. Hier war es ein Freund, doch selbst Fremden gegenüber galt die orientalische Gastfreundschaft uneingeschränkt.
Der Bürgerrechtler Martin Luther King jr. hat eine berühmte Predigt zu diesem Bibeltext gehalten: «A Knock at Midnight» (Es klopft um Mitternacht). Darin verschiebt er den Akzent von uns, die wir bei Gott anklopfen, hin zu Menschen, die bei uns vor der Tür stehen. Vor allem aber beschreibt King in seiner Predigt die Dunkelheit seiner (unserer) Zeit: «Es ist Mitternacht im Gleichnis; es ist auch Mitternacht in unserer Welt, und die Finsternis ist so tief, dass wir kaum erkennen, welchen Weg wir nehmen können.» Wer nicht mehr weiter weiss, wer keine Hoffnung mehr hat, den heisst Jesus mit diesem Gleichnis herzlich willkommen.
2. Verwirrt
Ein Gleichnis ist eine fiktive Alltagsgeschichte, die einen Punkt bildlich verdeutlicht. Damit das funktioniert, beginnt es oft mit einer Einleitungsfrage oder es schliesst mit einem Fazit. Es enthält oft Anwendungen in der Art: «So geh du hin und handle ebenso!», wie im Gleichnis vom barmherzigen Samariter ein Kapitel vorher. All das fehlt hier. Und dazu kommt ein scheinbares Durcheinander im Satzbau und bei den verwendeten Zeitformen. Die Bibelübersetzung oben macht das recht gut deutlich.
Trotzdem kommuniziert die Geschichte genau das, was Jesus bzw. Lukas erreichen wollte: Die rhetorische Frage zu Beginn kann nicht mit der dreimaligen Ablehnung beantwortet werden. Am Schluss muss das «Ja» stehen. Das ist jedem klar, der das Gleichnis hört.
Die eigentliche Verwirrung im Gleichnis betrifft nämlich gar nicht die Grammatik, sondern das Gottesbild der Zuhörer. Unseres. Deutlich wird der Freund im verschlossenen Haus mit Gott identifiziert, und die Frage ist, wenn man sich an ihn wendet: Muss ich Gott wecken? Von der Sinnhaftigkeit meines Anliegens überzeugen? Ihn umstimmen oder auf meine Seite ziehen?
Im Gebetsleben mag das oft viel frommer klingen, doch aus der Sicht dieses Gleichnisses muss man schon fragen, welches Gottesbild dahintersteckt, wenn man Gott über Intensität, Vollmacht, Dauer oder Menge der Betenden zum Handeln bewegen will. Hier ist es eindeutig: Gott ist auf meiner Seite – er ist schliesslich mein Freund.
3. Unverschämt
Das Gleichnis endet mit einem Antibild, das im anschliessenden Text noch einmal verschärft wird: Wenn jeder Freund für den anderen da ist, wenn kein Vater seinem Sohn einen Stein statt Brot gibt, wie viel mehr wird Gott auf uns hören?
Normalerweise wird Demut als christliche Tugend gehandelt und nicht Unverschämtheit. Doch Jesus fügt sie hier den Tugenden hinzu. Die Ruhestörung war auch damals schon unverschämt, doch Freunde dürfen das! Diese Art der Unverschämtheit wünscht sich Jesus offensichtlich, dieses tiefe Vertrauen und direkte Äussern unserer Bitten (nicht nur für andere!).
Unverschämtheit klingt bei uns erst einmal negativ, doch der Begriff lässt sich auch anders sehen. Es ist ein Zurückgehen in die Zeit vor der Scham, in den paradiesischen Zustand, der im Vaterunser gerade vorher schon angesprochen wurde: «Dein Reich komme!» Gibt es eine schönere Einladung, im Gebet zu Gott zu kommen? Ohne auf die richtige Uhrzeit oder Umgebung warten zu müssen? Ohne mich selbst erst einmal in Ordnung zu bringen?
Dietrich Bonhoeffer hat es einmal so ausgedrückt: «Daher kann unser Gebet niemals eine Beschwörung Gottes sein, wir brauchen uns vor ihm nicht mehr darzustellen. Wir dürfen wissen, dass er weiss, was wir bedürfen, ehe wir darum bitten.» Und wir können ergänzen: «ehe wir unverschämt darum bitten».
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