«Wahrheit ist weder objektiv noch subjektiv»
Michael Berra sprach dazu an der Delegiertenversammlung der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA) am 2. Juni 2023 in Zürich. Die Delegierten der SEA kamen mit dem Referat zum Thema «Zusammenbringen, was unvereinbar erscheint…» in den Genuss einer rhetorisch perfekt und frisch vorgetragenen Lektion mit Tiefgang.
Debatte zwischen theologischen Schwergewichten
Michael Berra, Pastor in der Prisma-Kirche Rapperswil und Schulleiter der Prisma Academy, hat seine Doktorarbeit über Emil Brunner geschrieben und sich dabei vorgenommen, der Debatte zwischen den grossen Theologieprofessoren Barth und Brunner nachzuspüren. Den beiden theologischen Giganten ging es darum, den herrschenden Liberalismus in den protestantischen Kirchen zu überwinden. Barth hatte dazu die Dialektische Theologie entwickelt, die betont, dass alle Wahrheit nur in Gott gefunden werden kann, der sich der Menschheit offenbart hat, und dass die subjektive Erkenntnis des Menschen in allen ihren Formen darin absolut nichts zu suchen hat.
Emil Brunner ging es in seiner Theologie aber stärker darum, wie Menschen zu Gott und zu seiner Wahrheit finden können und welche Anknüpfungspunkte es, zum Beispiel in der Natur, dafür gibt. Hier zerstritten sich aber die beiden (bisherigen) Freunde und Karl Barth schleuderte Emil Brunner in einer Schrift mit dem Titel «NEIN!» eine schroffe Ablehnung entgegen. Barth ging es mehr um die Erkenntnis Gottes und seiner Erlösungsbotschaft, die er gerade angesichts des Nationalsozialismus mit einer Ablehnung jeder «natürlichen Theologie» verband.
Diese nahm er in der gleichgeschalteten Kirche der Nazis wahr. Barth war bekannt als Kämpfer gegen den Nationalsozialismus und als Mitbegründer der bekennenden Kirche in Deutschland. Emil Brunner, der aus einem pietistischen Elternhaus kam und später zu einem persönlichen Glauben fand, lehrte an der theologischen Fakultät der Universität Zürich. Sein Anliegen war, wie Menschen wieder zum Glauben finden können. Er stand dazu in engem Kontakt mit der Oxford-Gruppenbewegung.
Eine Theologie der Beziehung
Wir leben in einer Zeit, die von der Idee dominiert wird: «Wahrheit ist, was für mich stimmt.» Wahrheit ist somit auch für viele Christen sehr subjektiv geprägt. Begleitet wird die Haltung von der Überzeugung, dass es eine objektive Wahrheit gar nicht gibt. Berra kam zur Einsicht, dass es keinen Kompromiss zwischen objektiver und subjektiver Wahrheit gibt. So kam ihm die Einsicht von Emil Brunner, der eine Schrift mit dem Titel «Wahrheit als Begegnung» veröffentlichte, entgegen.
Berra sagte daher: Wahrheit geschieht in Beziehung, wie es zum Beispiel Jesus im Johannes-Evangelium, Kapitel 1, Vers 14 deutlich macht. Alle Lehrsätze sollten daher auf Jesus, die Wahrheit in Person, basieren. Er hat dazu einen Podcast mit dem Titel «Beziehologie» erstellt.
Berra hob dabei hervor, dass Emil Brunner mit seiner Überzeugung keineswegs auf viel Gegenliebe stiess: «Den Liberalen war er zu fromm und den Frommen zu liberal.» Doch sein Wahrheitsverständnis reicht weit über seine Zeit hinaus. Er war überzeugt: Gott ist der Welt zugewandt und kommt uns nahe.
Schon in der Schöpfung finden wir zahlreiche Hinweise auf ihn. Seine Überzeugungen kommen zudem in der heute aktuellen «Missionalen Theologie» zum Ausdruck. Ein Kernsatz dazu lautet: «Die Kirche existiert durch die Mission ... wo keine Mission ist, gibt es keine Kirche und keinen Glauben.» Er war überzeugt, dass sich wahres Christsein auch durch die praktische Lebensführung (Früchte des Glaubens) zeigen muss. Er hat seine Überzeugungen in handlichen Schriften wie zum Beispiel «Unser Glaube» niedergeschrieben.
Sehen Sie sich hier das vollständige Referat von Michael Berra an. Einen ausführlichen Bericht der SEA über die Delegiertenversammlung finden Sie hier.
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