Auf den Spuren des alten Stammes Dan

Während Jahrhunderten waren sie vergessen: Juden in Äthiopien, die manche Rabbiner auf den altisraelischen Stamm Dan zurückführen. Livenet.ch traf in der Hauptstadt Addis Abeba einen Mann, der den Puls von Dans Kindern fühlt: Gerald Gotzen.
Junge im Berggebiet ausserhalb von Addis Abeba (die abgebildeten Personen haben keinen Zusammenhang mit der jüdischen Gemeinschaft Äthiopiens).
Die äthiopischen Juden leben zum Teil in unglaublicher Armut.
Seitenstrasse etwas ausserhalb von Addis Abeba.
Die Frauen schleppen schwere Lasten an gesammeltem Holz und verkaufen es dann in der Hauptstadt Addis Abeba.

Addis Abeba. Der leichte Regen hat wieder aufgehört. Da und dort liegt noch eine Pfütze, als wir auf den Parkplatz des Hotels einbiegen. Das Grün blüht. Gerald Gotzen verspätet sich. «Wir hatten in der Früh noch einen Dienst», erklärt der Engländer. Gotzen setzt sich ein für die «Falascha», jüdischstämmige Äthiopier, die zum Teil zum christlichen Christentum übergetreten sind. In der äthiopischen Gesellschaft stehen sie ganz unten stehen.

König Salomos Sohn

Historisch stehen sie ziemlich weit oben. Denn diese Menschen sollen auf den altbiblischen Stamm Dan zurückgehen. Ursprünglich waren es zwölf Stämme. In den Wirren der Geschichte gingen die meisten von ihnen unter. Oder jedenfalls verloren.

Aber es gibt die andere Theorie, dass sie von König Salomo und der Königin von Saba abstammen. «Salomo hatte mit dieser Königin den Sohn Menelik», berichtet der Brite. «Die Äthiopier glauben, dass er die Bundeslade von Israel mit nach Äthiopien brachte. Zudem nahm er von jedem Stamm 1000 Juden mit. Insgesamt wanderten also 12'000 Juden hierher aus. So besagt es die Geschichtsschreibung der orthodoxen äthiopischen Kirche.» Die äthiopischen Juden würden damit ein Klein-Israel bilden.

Tempel am Nil

Als ehemaliger Stamm Dan könnten sie im 7. Jahrhundert vor Christus vor dem Einmarsch der Assyrer aus Arabien und Israel nach Äthiopien geflohen sein, meinen manche Historiker. «Von Arabien über das Rote Meer ist es ja nicht weit bis hierher», meint Gotzen.

Viele äthiopische Juden plädieren jedoch eher für Ägypten, wo es zur Zeit des Propheten Jeremia (6. Jahrhundert vor Christus) und früher eine grosse jüdische Gemeinschaft gab. In Oberägypten hatten sie am Nil sogar einen riesigen Tempel erbaut, in der Gegend von Assuan, wo auch die alten jüdischen Tempelriten befolgt wurden – genau wie in Israel.

Jüdische Spuren in der Orthodoxen Kirche

Diese Periode dauerte etwa 200 Jahre. Dann sei der Tempel zerstört und die Juden zerstreut worden. Viele zogen dem Nil entlang und siedelten dann im heute ostäthiopischen Gonder.

Etwa 330 nach Christus wurde Äthiopien offiziell eine christliche Nation. Die orthodoxe Kirche nahm immer mehr Gestalt an und wurde zu dem, was sie heute ist. «Viele ihrer Praktiken haben jüdische Wurzeln», erklärt Gerald Gotzen. «Es war das Jüdische, das ins Christliche hineinwirkte, wie die Beschneidung der männlichen Babys am achten Tag oder Reinigungsvorschriften.»

Die Bundeslade

Die Bundeslade ist in Äthiopien. Das ist den Geistlichen in diesem ostafrikanischen Land noch gewisser als das Amen den Mitteleuropäern. «Sie glauben, dass sie die Original-Bundeslade im nordäthiopischen Aksum besitzen. Jede Kirche in Äthiopien hat eine Nachbildung davon.» Wahrheit oder Mythos – diese Frage konnte bisher nicht geklärt werden. Die Lade ist unter Verschluss.

Die Fremden

Mit den Jahren konvertierte ein grosser Teil der jüdischen Gemeinschaft allmählich zum Christentum; teils unter Druck, teils aus eigener Überzeugung. Trotzdem haperte es mit der Integration. «Falascha» werden die Juden in Äthiopien genannt. Gerald Gotzen bedauert: «Das ist ein Schimpfwort. Das Wort kommt von „Fremder“ und signalisiert diesen Juden soviel wie: Du bist hier nicht geduldet; geh dorthin, wo du herkommst!» Selber nennen sie sich «Beit Israel» (hebräisch für «Haus Israels»).

Auch durch die Kirche diskriminiert

Unter dem Einfluss christlicher Missionare kamen in den letzten beiden Jahrhunderten Tausende von Falaschas zu Christus. Eine eigene Kirche durften sie aber nicht gründen. Also besuchten sie die Orthodoxe Kirche. Und da gab es laut Gerald Gotzen ein Problem: «Die Kirche sagte, diese Menschen hätten einen bösen Blick. Man dürfe ihnen nicht zu nahe kommen, sonst würden sie einem einen Fluch auferlegen.»

Die Konvertiten wurden abgelehnt. «Ihr seid äusserlich Christen, aber inwendig seid ihr Juden», habe ihnen die Orthodoxe Kirche zu verstehen gegeben. Ein wenig, so Gerald Gotzen, hatte sie damit sogar recht: «Sie waren Christen geworden, behielten aber manche ihrer jüdischen Überlieferungen bei.»

«Silber und Gold hab’ ich»

Heute erkenne man die Juden vor allem an ihren Arbeiten. «Alle üben sie ein Kunsthandwerk aus. Sie sind zum Beispiel Gold- oder Silberschmiede, machen Porträts und arbeiten als Kunstschmiede. Sie haben diese Fertigkeiten weitertradiert, von einer Generation zur nächsten. Jede ist dabei geblieben. In der Vergangenheit haben sie die Pflüge, Schilder und Schwerter hergestellt oder waren als Architekten bekannt. Und die Juden kennen einander. Sie wissen, wer mit wem verwandt ist.»

Manche leben in eigenen Dörfern. «Die Orthodoxe Kirche wollte die Menschen mit dem bösen Blick separieren», sagt Gerald Gotzen. Die Trennung habe sich aber auch wegen des Sabbaths und der besonderen Essenszubereitung nahegelegt. Mit ihren Traditionen leben sie näher am Alten Testament als viele Juden in Israel. Nur haben sie hier keinen Talmud, sondern ausschliesslich das Alte Testament.

Die Prophezeiung

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts errichteten christliche Missionare Schulen und Kliniken; viele äthiopische Juden kamen zu Christus. «Viele von ihnen leben mittlerweile in Israel», weiss Gerald Gotzen. Eine jahrtausendealte Prophezeiung ist damit zum Leben erwacht. Sie erfüllt sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit – sofern die hinblickt.

Der erste Missionar war in den 1860er Jahren Martin Flad aus dem Raum Stuttgart. Auf St. Chrischona bei Basel wurde er ausgebildet. Später stiess der messianische Jude Henry Aaron Stern dazu. Die übergetretenen Falascha heissen dann Falascha Mura. Säkulare oder materialistische Juden hingegen gibt es hier nicht. «Sie haben immer ihre Kultur und ihre Überlieferungen hochgehalten.»

Gefunden

Lange Zeit wusste das übrige Israel nicht um die äthiopischen Juden. Denn sie lebten stark isoliert. Erst über die christlichen Missionare haben die Juden in Europa von ihnen erfahren. Man wurde hellhörig. Gerald Gotzen: «Juden aus verschiedenen Ländern kamen, um die Situation der Menschen hier zu studieren und ihnen zu helfen.»

Damit waren sie aber immer noch nicht als Juden anerkannt. «Ihre Vergangenheit ist mysteriös. Sie hatten keinen Talmud, und sie sehen äthiopisch und nicht jüdisch aus.» Das änderte sich im Jahr 1973. Damals untersuchten die israelischen Chefrabbis die Wurzeln der äthiopischen Juden und bestätigten ihre Identität. 1975 dann die Erklärung: «Diese Juden sind genuin, und sie haben das Recht, nach Israel zurückzukehren.» Was seither auch viele gemacht haben.

Aber nicht sofort. Denn ab 1974 wurde Äthiopien kommunistisch regiert, und diplomatische Beziehungen gingen in die Brüche. 1985 flüchteten dann Tausende Juden in den Sudan. «Hier in Äthiopien herrschten Bürgerkrieg und Unterdrückung.» Die Juden mussten ganz weit unten durch. «Darum startete die israelische Regierung die «Operation Mose» . Mehr als 10'000 Juden wurden aus dem Sudan ausgeflogen. Sie litten unter Malaria, Hunger, Schlangenbissen und Skorpionstichen.»

Datum: 19.12.2005
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet.ch

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