«TikTok ist aufsuchende Jugendarbeit»
«Beeinflussen das nicht die Chinesen?» – «Eine Quelle für Cyber-Mobbing.» – «Datenschutztechnisch eine Katastrophe.» – «Sex, Musik und Fake-News…» Sem Dietterle (35) kennt diese Meinungen zum Videoportal TikTok. Er weiss, dass sie nicht aus der Luft gegriffen sind. Gleichzeitig zeigen sie nicht das gesamte Bild. Sem ist Jugendpastor und Social-Media-Verantwortlicher zahlreicher Aktionen wie «truestory», dem Jugendformat von ProChrist, früher bekannt als JesusHouse. Für ihn hat TikTok nicht nur Gefährdungspotenzial, sondern auch weitreichende Möglichkeiten. Auf seiner Website schreibt er dazu: «Noch nie in meinem Leben war ich so evangelistisch wie auf TikTok.»
Über TikTok ins Gespräch kommen
Eine der grossen Unwägbarkeiten bei TikTok bietet evangelistisch gesehen gute Chancen: Die Plattform präsentiert dort eingestellte Videos nämlich nicht nur der eigenen Community, sondern auch Fremden, Leuten, die sich scheinbar für die Inhalte dieser Filmclips interessieren. So kann selbst jemand, der nicht viele Follower hat, mit einem Video viral gehen, also plötzlich Hunderttausende an Aufrufen haben. In diesem Moment geht die eigentliche Arbeit los, denn viele dieser Besucher kommentieren das Video. Die Bandbreite reicht dabei von «Spannend. Sag mir mehr.» bis hin zu «Ich glaub nicht an Gott!» oder «So ein Quatsch!» Wenn das geschieht, dann weiss Sem: «Die richtige Zielgruppe hat das Video angeschaut, nämlich Jugendliche, die keinen Bezug zum Glauben haben.»
Wenn TikTok-Videos den Nerv ihrer Zuschauer treffen, dann geschieht etwas, das über klassische christliche Angebote kaum möglich ist: Man kommt mit dem Evangelium in die Welt von Teenagern hinein und erreicht sie dort, wo sie gerade sind, in ihrer Komfortzone. Manche Kommentare bleiben dann auch nicht so neutral wie die oben genannten. Da kann es schon zu deftigen Angriffen kommen. Manchmal entwickelt sich trotzdem ein gutes Gespräch, wenn man freundlich reagiert. Oft folgen auch die schweren Fragen, die auch Teens beschäftigen: «Mein Onkel starb vor Jahren durch ärztlichen Pfusch und seine Kinder mussten ohne Papa gross werden. Wo war Jesus da?» Das ist dann kein Spaziergang, aber plötzlich ist man an den Fragen dran, die Teens tatsächlich beschäftigen – und kann vom Glauben her Angebote machen.
Aufsuchende Jugendarbeit
Sem vergleicht diese virtuellen Gespräche mit aufsuchender Jugendarbeit. Genau wie diese geht man zu den Jugendlichen hin und baut mit relativ hohem Zeitaufwand Vertrauen und einen Kontakt auf. Oft funktioniert das nicht oder man verliert den Kontakt bald wieder, aber die Beziehung zu einigen wächst und etliche Chats gehen in die Tiefe. «Ist denn schon einer dieser Kontakte in deiner Gemeinde angekommen?», wird Sem Dietterle immer wieder gefragt. «Nein», antwortet er, «auch wenn es immer mal wieder Anfragen gab. Dennoch ist die Evangelisation auf TikTok ein Gewinn!» Für ihn ist es ein Aussäen, zu dem es keine Alternative gibt.
Vorteile der TikTok-Evangelisation
Es geht nicht darum, das klassische Gespräch in der Nachbarschaft oder der Schulklasse abzulösen, aber viele junge Menschen haben niemanden, der sie hier anspricht. Wenn sie sowieso in den sozialen Medien unterwegs sind, sollten sie hier auch Christinnen und Christen treffen, die ihnen auf gewinnende Weise begegnen. Sem Dietterle nennt vier Vorzüge seines Engagements auf TikTok:
- Man lernt, seinen Glauben, kurz und prägnant weiterzugeben. Das hilft auch ausserhalb der Plattform.
- Wenn ein Video floppt, war das Thema nicht interessant. TikTok hilft dabei herauszufinden, wo Jugendliche Fragen haben – und sie zu beantworten.
- Der anonyme Rahmen von TikTok soorgt für offene und ehrliche Gespräche, für Realtalk.
- Etliche Jugendliche öffnen sich für das Evangelium und kommentieren dann zum Beispiel: «Ich kann zwar schon lange nicht mehr glauben, aber so wie du über Gott sprichst, könnte ich mir das irgendwann wieder vorstellen.»