Von Schafen, Böcken und mir
Beispielgeschichten von Hirten und ihrer Herde kommen immer wieder in der Bibel vor. Sehr prominent ist Psalm Kapitel 23, «Der Herr ist mein Hirte…». Normalerweise lässt sich heutzutage niemand gern als «Schaf» bezeichnen, doch dieser Psalm schafft eine Ausnahme: Wer liesse sich nicht gern durch die Finsternisse und Unwägbarkeiten dieser Welt leiten?
Aber im Blick auf die Endzeit etabliert Jesus noch ein anderes Bild des «guten Hirten». Dieser stellt sich vor seine Herde und trennt sie in «Schafe und Böcke». Damit klärt er, dass die einen dazugehören und die anderen nicht. Oder könnte die Gleichnisgeschichte auch etwas anders bedeuten? Hier ist jedenfalls erst einmal der Text:
«Wenn aber der Sohn des Menschen in seiner Herrlichkeit kommen wird und alle heiligen Engel mit ihm, dann wird er auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzen, und vor ihm werden alle Heidenvölker versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet, und er wird die Schafe zu seiner Rechten stellen, die Böcke aber zu seiner Linken» (Matthäus, Kapitel 25, Verse 31–33).
Wofür stehen die Schafe und Böcke?
Der erste Blick auf den Bibeltext bedient zunächst einmal ein Klischee: Schafe sind gut und Böcke sind schlecht. Denn Bock klingt bereits nach unangenehmem Geruch, nach sexueller Aggressivität und irgendwie teuflisch – Hörner und Ziegenfuss lassen grüssen. Dabei ist im vorliegenden Text sehr neutral von «Schafen» und «Ziegen» die Rede. Beide gehörten zum normalen Kleinvieh, das die meisten Bauern in Israel besassen.
Allerdings unterstreicht Jesus in seinem Gleichnis, dass es einen Unterschied zwischen den beiden gibt. Was sie trennt, kommt erst in den folgenden Versen zur Sprache. Und da geht es erst einmal nicht um Theoretisch-Grundsätzliches. Stattdessen fragt Jesus: «Was hast du für mich getan?»
Wer richtet eigentlich?
Normalerweise betrachten wir «Gericht» als etwas, das von aussen an uns herangetragen wird. Ein externer Richter beurteilt, was wir als Menschen tun oder sind. Der orthodoxe Theologe Sergius Bulgakov betrachtete dies aus einer ungewöhnlichen Perspektive. Er sah die Begegnung mit Gott beim Jüngsten Gericht in erster Linie als einen Moment der Selbstverurteilung, des inneren Erwachens und der Offenbarung. Vor Christus zu stehen bedeutete für ihn, die Kluft, den Abgrund, die Entfernung zwischen dem, was wir sind, und dem, was Gott ist, zu sehen und zu verstehen.
Wir erkennen uns selbst so, wie wir tatsächlich sind – ohne Masken, Ausreden, Abwehrmechanismen oder jedes Versteck. Wir sind völlig nackt und sehen uns zum ersten Mal. Was dabei entsteht, ist dasselbe Gefühl, das David hatte, als Nathan ihm den Spiegel vorhielt und sagte: «Du bist der Mann!» (2 Samuel, Kapitel 12, Vers 17). So wie David sehen wir dabei, dass wir tatsächlich selbst verantwortlich sind für das, was wir tun und sind. Und in erster Linie beurteilen wir uns daraufhin selbst.
Wer ist «drinnen» und wer «draussen»?
Was bei diesem Gleichnis zunächst einmal hart wirkt, ist die klare Trennung in Drinnen und Draussen. Manche Leserinnen und Leser mögen sich darüber freuen, andere vielleicht erschrecken, aber der Text spricht von einer deutlichen Unterscheidung. Die Frage ist nur: Wo verläuft die Trennlinie?
Schnell urteilen manche Christen, dass «die anderen» leider draussen bleiben müssen, also diejenigen, die leider nicht so christlich sind wie sie selber… Bulgakow sieht in diesem Gleichnis eine völlig andere Wirklichkeit. Er behauptet, dass die beschriebene Trennung durchaus geschieht, aber dass sie nicht einzelne Personen betrifft. Es geht also nicht darum, dass ein Mensch «Schaf» ist und ein anderer «Ziege», dass ein Mensch gerichtet und ein anderer freigesprochen wird. Er hält fest, dass jeder von uns beides erleben wird. Jeder von uns ist beides gleichzeitig.
Bulgakow folgert: «Es handelt sich um eine horizontale Teilung, die die ganze Menschheit durchzieht, und nicht um eine vertikale, die sie in zwei gegenseitige unvereinbare Teile trennen würde…» Diese Sichtweise entspricht nicht der klassischen christlichen Deutung, sie findet aber positive Resonanz bei all denjenigen Christen, die bei einem Bick in den Spiegel feststellen, dass sie da zwar christliche und gute Anteile sehen, aber genauso Dinge finden, die ihnen (und Gott!) überhaupt nicht gefallen.
Der russische Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn meinte dazu: «Die Trennlinie zwischen Gut und Böse verläuft weder durch Staaten noch zwischen Klassen oder politischen Parteien hindurch – sie verläuft mitten durch jedes menschliche Herz und durch alle Menschenherzen.»
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Datum: 03.05.2020
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet