Ukraineflüchtlinge

Empathie – aber wie?

Flüchtlinge aus der Ukraine erleben gerade eine beispiellose Welle der Hilfsbereitschaft. Davon können syrische Geflüchtete nur träumen. Woran liegt das? Können und sollten wir das ändern?
Ukrainisches Flüchtlingskind (Bild: Wikimedia Commons)

Erschöpft streicht sich eine junge Mutter aus der Ukraine die Haare aus dem Gesicht. Die eine Tochter hat sie an der Hand, ihre Kleine trägt sie auf dem Arm. Ein winziger Koffer enthält ihre gesamte Habe. Bilder wie dieses von dem polnischen Bahnhof in Przemysl gehen gerade durch die Nachrichten – und rühren Menschenherzen an. Dass wir uns in die junge Frau hineinversetzen können und auch wollen, nennt man Empathie. Doch warum rührt uns ein Schicksal zu Tränen und das andere lässt uns gleichgültig? Warum helfen wir in einer Situation bis zur Aufopferung und drehen anderen Betroffenen in einer ganz ähnlichen Lage den Rücken zu?

Wir sind grundsätzlich empathiefähig

Sich bis zu einem gewissen Grad in andere Menschen einfühlen zu können, gilt als grundlegendes menschliches Verhalten. Der US-Psychologe Paul Ekman stellt klar, dass dies zunächst einmal kein emotionaler Vorgang ist, sondern unsere Reaktion auf die Emotion eines anderen: «Kognitive Empathie lässt uns erkennen, was ein anderer fühlt. Emotionale Empathie lässt uns fühlen, was der andere fühlt, und das Mitleiden bringt uns dazu, dass wir dem anderen helfen wollen…» (Ekman, Gefühle lesen). Kopf, Herz und Hand können also alle an unserer Empathie beteiligt sein, müssen es aber nicht. Tatsächlich können wir verstehen, dass ein Mensch Schreckliches durchmacht, ohne Mitleid zu empfinden bzw. der Person helfen zu wollen.

Herzlosigkeit ist eine Störung

So normal es ist, dass wir nicht mit allen Menschen gleichermassen mitleiden, so unnormal ist es, das gar nicht zu können. Auslöser dafür können Persönlichkeitsstörungen sein (z. B. Narzissmus), Gruppenverhalten (beim Fussballspiel hat man kein Mitleid mit dem «Gegner») oder einfach nur Stress (wer selbst überfordert ist, tut sich schwer, anderen offen zu begegnen).

Doch die Schwierigkeit, sich auf die Gefühlslage anderer Menschen einzulassen, kann auch ganz banale Ursachen haben:

  • Überflutung mit Krisenbildern. So wie wir während der Coronapandemie schon keine Spritzen mehr sehen konnten, die in Oberarme stachen, so stumpfen wir auch bei Kriegsbildern ab. Auch deshalb sehen wir keine aktuellen Bilder aus Syrien.
  • Emotionale Überlastung. Jeder Spielfilmtrailer und jede einzelne Werbung will die ganz grossen Gefühle in uns wecken. Das ist oft an der Grenze der Manipulation, aber es lässt uns anderen Situationen gegenüber abstumpfen.
  • Empathie ist weiss. Die Rassismus-Expertin Sarah Vecera unterstreicht in einem Artikel im Sonntagsblatt, wie prägend es ist, dass ein echtes Wir-Gefühl in unserer Gesellschaft hauptsächlich gegenüber Menschen der gleichen Hautfarbe aufgebaut wird. Und wo das nicht passt (Jesus war nicht weiss!), da wird diese Person gern «umgefärbt».

Zurückhaltung ist Selbstschutz

Mangelnde Empathie ist allerdings nicht an sich verkehrt. Kein Mensch kann sich alle Probleme der Welt aufladen, geschweige denn sie lösen. Wo hyperempathische Menschen an globalen Schwierigkeiten zerbrechen, schaffen die meisten sich einen natürlichen Schutz. Claus Lamm, Psychologe an der Universität Wien, weist darauf hin, dass Empathie durch bestimmte Faktoren begünstigt wird, zum Beispiel «persönliche, geografische und kulturelle Nähe zu einem Ereignis». Deshalb horchen wir auf, wenn beim Flugzeugunglück irgendwo auf der Welt nicht nur 197 Passagiere aus Osttimor ums Leben gekommen sind, sondern auch ein deutsch-schweizerisches Ehepaar. Wir reagieren auch persönlich betroffen, wenn Kiew bombardiert wird, weil unser Nachbar aus Odessa kommt, der Krieg durchaus nach Europa schwappen könnte und wir bei jedem Tanken an die Auswirkungen erinnert werden.

Empathie kann man lernen

Gerade eine christliche Perspektive hilft dabei, Empathie zu lernen, denn Gott liebt schliesslich jeden Menschen. Wir tun uns da in der Regel schwerer, doch wenn wir andere beobachten und versuchen, sie zu verstehen, wenn wir nicht direkt urteilen, sondern erst einmal zuhören, dann kommt schon etwas in Bewegung. Zunächst einmal müssen wir dazu ein Klischee über Bord werfen, denn normalerweise denken wir: «Ich kenne hauptsächlich Menschen, die ich liebe.» Wenn wir unsere Empathiefähigkeit vergrössern wollen, dann müssen wir diesen Satz umdrehen: «Ich kann nur die Menschen lieben, die ich kenne.»

Wenn das geschieht, wird sich trotzdem nicht jeder für alle Nöte der Welt engagieren können, aber gemeinsam zeigen wir Gottes Liebe den Geflüchteten aus der Ukraine und aus Afghanistan, den Kriegsopfern aus Syrien und denen aus dem Jemen.

Zum Thema:
«Hoffnungsschimmer22»: Einsatz für die Menschen inmitten des Kriegs und der Flucht
Ukraine: Was können wir schon tun?
Organisation über Web-Plattform: Schweizer Kirchen helfen Flüchtlingen aus der Ukraine

Datum: 14.03.2022
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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