Was Gemeinden lassen sollten
Jede Gemeindearbeit ist ein Mix aus Tradition und Innovation. Aus dem Ausprobieren von neuen Formaten und dem Beibehalten von Bewährtem. Im Extremfall stehen sich dabei die Idee «Hauptsache neu» und der Gedanke «Das haben wir schon immer so gemacht» gegenüber. Dies hier soll kein Plädoyer sein, ab morgen alles anders zu machen, allerdings kann es hilfreich sein, sich bewusst zu machen, dass auch Kirchen und Gemeinde ein bisschen wie unser Zuhause sind: Wenn wir einladend sein und etwas Neues hineinbringen wollen, dann ist es meistens sinnvoll, Platz zu schaffen und das hinauszutragen, was uns den Raum zustellt. Welche Dinge, Aktionen oder Einstellungen das sein könnten, ist für jede Gruppe anders. Die folgenden Punkte sind in diesem Sinne nicht absolut zu sehen, sondern als Gedankenanregung. Was sollten Gemeinden lieber lassen?
Veranstaltungen, die stattfinden, weil sie stattfinden
In den 1970er-Jahren muss irgendjemand einmal die Idee gehabt haben, ein Adventskaffeetrinken zu veranstalten. Die Überlebenden von damals schwärmen noch immer davon, allerdings kommen sie genauso wenig zu den aktuell angesetzten Nachmittagen wie diejenigen, die diese Tradition nicht teilen. Trotzdem ist es «gesetzt»: Jedes Jahr am ersten Advent hat dieses Kaffeetrinken stattzufinden. Warum eigentlich? Weil es «schon immer so war»? Einige dieser Traditionen sind wie die Blumen, die man noch giesst, obwohl längst klar ist, dass sie bereits tot sind. Da kommt nichts mehr!
Es war einer der Vorteile nach der Corona-Pandemie, dass manche solcher Veranstaltungen ein bis zwei Jahre lang unterbleiben mussten – und was vorher jahrelang unbedingt beibehalten werden musste, danach fragt jetzt niemand mehr. Ganz wichtig: Es geht nicht darum, eine Veranstaltung zu streichen, die seit 100 Jahren läuft und immer noch der Hit ist – es geht allerdings darum, ehrlich zu werden: Kann es sein, dass manche unserer Events solchen Veranstaltungen im Wege stehen, die heute Menschen interessieren würden?
Gebetsangebote vorne im Gottesdienstsaal
Es ist wunderbar, wenn Gemeinden nach dem Gottesdienst Gebet für alle anbieten, die das möchten. Die Form dabei ist allerdings oft schwierig bis peinlich. «Wenn du auch Eheprobleme hast, dann komm nach dem Gottesdienst einfach nach vorne zu unserem Gebetsteam und lass mit dir beten», verkündet der Pastor am Ende seiner Predigt und alle sind gespannt: Wen das wohl betrifft? Selbst wenn es nicht so überspitzt ausgedrückt wird, ist es ein grosser Schritt, um Gebet zu bitten. Und der muss nicht im Fokus der gesamten Besucherschar geschehen, während die sich zum Kirchenkaffee in den hinteren Bereich des Saales zurückzieht. Ein Angebot zum Beten ist wunderbar, aber praktisch überall lassen sich Möglichkeiten finden, wo das mit mehr Privatsphäre stattfinden kann.
Männeraktionen – Frauenkaffeetrinken
«Am nächsten Freitagabend treffen sich die Männer zu einem Motorsägekurs und anschliessendem Grillen, Samstagnachmittag treffen sich die Frauen dann zum Kaffeetrinken im schön dekorierten Café.» Manche geniessen solche Angebote. Andere würden am liebsten schreiend hinauslaufen, wenn sie als Frau schon wieder um eine gestaltete Mitte herum sitzen und bei einer Tasse Kaffee oder einem kleinen Salat etwas basteln sollen. Natürlich geht es jetzt nicht darum, das Klischee umzudrehen und mit aller Gewalt Häkelkreise für Männer anzubieten, aber warum sehen die Einladungen von Gemeinden für Männer und Frauen oft so aus wie aus der Zeit gefallen? Können Männertreffen nicht ein entspanntes Zusammensitzen bei Kaffee, Kuchen und Gesprächen sein, während die Frauen sich draussen im Kletterpark verabreden?
Muttertagsaktionen
Es ist eine Stärke von Kirchen und Gemeinden, Menschen zu würdigen und zu «sehen». Manchmal treibt dies aber seltsame Blüten. Ein Beispiel mag der Muttertag sein, an dem Mütter im Gottesdienst aufstehen sollen und eine Rose oder Applaus erhalten. Wertschätzung ist prima, doch was ist mit den Frauen, die zwar gern ein Kind hätten, aber keines bekommen können, die Single sind, ihr Leben als Alleinerziehende bestreiten müssen usw.? Wie fühlen sie sich dabei? Dies ist ein typisches Beispiel dafür, wie wenig hilfreich es ist, das Kind mit dem Bade auszuschütten. «Dann lassen wir es eben ganz» ist genauso wenig eine Lösung wie «Wir machen es trotzdem». Aber es war schon immer so, dass Liebe Wege gefunden hat…
Lückentext-Bibelstudien
In den 1980er-Jahren gab es Bibelstudienmaterial, das nach dem Muster von Frage und Antwort aufgebaut war: Gott hat die Welt in sieben Tagen erschaffen. In wie viel Tagen hat Gott die Welt erschaffen? In ___. Es ging darum, Wissen zu vermitteln und die Didaktik war die des vergangenen Jahrhunderts. Leider scheint es bei einigen christlichen Werken und Verlagen eine direkte Verbindung zwischen «Material» und «Lückentext» zu geben, denn manch ein Hauskreisheft oder Jüngerschaftsprogramm ist im Laufe der Jahre nur bunter geworden, nicht neuer. Wie lässt sich heute Wissen vermitteln? Wie können wir heute daran arbeiten, darüber hinaus an der Beziehung zu anderen Menschen zu bauen und die Freundschaft zu Gott zu stärken? Fragen wie diese helfen, aus dem Muster der altgedienten Lückentexte auszubrechen. Ist das nötig? ________ (eigene Antwort).
Fokus statt Teestube & Co.
Begriffe wie «aus der Zeit gefallen» oder gar «peinlich» kennzeichnen manche Gemeindeaktivitäten. Doch das bedeutet nicht, dass sie deswegen immer falsch waren. Es gab mal eine Zeit, da waren Teestuben hip. Da sassen junge Leute mit Norwegerpullis und Birkenstocksandalen zusammen, tranken aromatisierten Schwarztee und diskutierten nächtelang über Gott und die Welt. Das war damals «richtig», weil es funktionierte. Und aus genau diesem Grund ist es heute «falsch». Mag sein, dass es in zehn Jahren wieder klappt – Birkenstocks scheinen jedenfalls wieder trendy zu werden –, bis dahin ist es jedoch nicht sinnvoll. Stattdessen geht es darum, die Aktivitäten in Kirchen und Gemeinden regelmässig auf den Prüfstand zu stellen. «Neu» ist dabei genauso wenig ein Kriterium wie «alt», es geht einfach darum, Wege zu finden, Gottes Liebe heute so zu leben, dass sie ankommt: bei Besucherinnen, Interessenten und Gemeindemitgliedern. Und da keine Gemeinde alles tun kann, ist es sinnvoll, sich zu fokussieren und vielleicht sogar etwas Gutes sein zu lassen, um etwas noch Besseres zu tun.
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