Ein gestohlenes Leben

Gemeinsames Gebet mit Seelsorgern und Soldaten
Anatoliy Raychynets, stellvertretender Generalsekretär der Ukrainischen Bibelgesellschaft, beschreibt, wie er den Krieg nach mehr als zweieinhalb Jahren erlebt. Trotz der Trauer ist sein Bericht von letztem Juni voller Dankbarkeit und Hoffnung.

«Heute ist der 848. Tag des Krieges. Wir zählen mit, denn jeder neue Tag ist ein Wunder. Die letzte Nacht und der heutige Morgen donnerte es. Der Feind hat ein Kraftwerk nur einen Kilometer entfernt bombardiert – eine weitere Zerstörung.

Wir haben noch weniger Strom. Noch bin ich unter den Lebenden. Unser unglaubliches Team von Seelsorgern und Freiwilligen ist gesund und munter, ebenso sind unsere Fahrzeuge noch intakt. Wir sind bereit für einen weiteren Tag der Seelsorge und des Freiwilligendienstes. Schnelle Planungssitzung. Aus Gründen der Effizienz teilen wir uns in Teams auf.

Psalmen mit neuer Aktualität

Während des Krieges hat das Buch der Psalmen für mich eine besondere Bedeutung erlangt. Manchmal, wenn der Schmerz überwältigend ist, gibt es keine Worte zum Beten. Das Buch der Psalmen hilft mir, Gott meinen Gemütszustand mitzuteilen. Die Psalmen und Gebete scheinen heute geschrieben zu sein, sie spiegeln unseren Schmerz, unsere Wut und unser Leid wider.

Aus irgendeinem Grund muss ich heute Morgen an eine Gruppe von Soldaten denken (insbesondere an einen von ihnen), die wir gestern besucht haben. Wir sassen unter einem Walnussbaum, lasen in der Bibel, beteten, sprachen, lachten und bissen manchmal die Zähne zusammen bei dem, was wir hörten.

Sie sind jung, sehr jung… Zahlreiche Narben und frische Wunden an ihren Körpern. Ein junger Soldat ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Erst vor zehn Tagen ist er Vater eines Sohnes namens Matviy geworden. Der junge Vater hat Traurigkeit in den Augen, obwohl er sein Bestes tut, um sie zu verbergen. Seine Frau hatte schwierige Wehen und hat viel Blut verloren, so dass sie immer noch im Krankenhaus liegt. Er möchte so gerne bei ihnen sein, ein neues Leben sehen – seinen Sohn! Er möchte seiner Frau so gerne helfen, wenigstens ein bisschen! Aber er kann es nicht. Der verfluchte Krieg! Jeden Tag greift der Feind mehrmals an und versucht, die Verteidigung zu durchbrechen und vorzurücken. Deshalb weigern sie sich, Matviy’s Vater auch nur für ein paar Tage gehen zu lassen. Jeder Soldat wird derzeit hier gebraucht.

Anatoliy Raychynets ist stv. Generalsekretär der Ukrainischen Bibelgesellschaft

Ich habe mit unseren Soldaten das 11. Kapitel des Hebräerbriefes gelesen, in dem es um den Glauben geht. Während des Gebets hatten viele von ihnen Tränen in den Augen. Ich wünschte, ich könnte mehr für diese jungen, gutaussehenden, mutigen Soldaten tun! Sie sind Söhne, Ehemänner und Väter.

Vor dem Krieg hatte jeder von uns sein eigenes Leben, voll von Plänen und Träumen. Wir lebten unser Leben. Und dann kam irgendwann der Feind und raubte uns dieses Leben. Ich lebe weiter, aber es ist jetzt ein anderes Leben. Als ich mich am 24. Februar 2022 auf dem Parkplatz von meiner geliebten Frau und meinen Kindern verabschiedete, war mir noch nicht klar, dass der Feind das Leben, das wir bis dahin gelebt hatten, gestohlen hatte. Es würde nie wieder so sein wie früher. Dies ist ein anderes Leben. Als ich neulich in meinem Auto sass und auf einen Militärseelsorger wartete, beobachtete ich die Menschen, die an der Frontlinie durch die Stadt eilten. Sie waren in Eile. Sie schienen ihre Stadt, ihre Strassen und ihre Luft nicht mehr so zu geniessen wie vor dem Krieg. Die meisten von ihnen hatten emotionslose Gesichter. Dies ist ein anderes Leben.

Aufgehört zu träumen

Bevor ich in den Osten abreiste, ging ich die Salyutna-Strasse entlang, wo Dutzende von Generatoren dröhnten. Und ich erinnerte mich an die Zeit vor dem Krieg, als meine Frau und ich abends diese Strasse entlanggingen und darüber sprachen, wie gut es war, in der Nähe eines kleinen Parks zu wohnen. Heute haben sich unsere Gespräche während unserer seltenen Spaziergänge verlagert, und die gesamte Atmosphäre in unserer Strasse hat sich verändert. Heute Abend, während der Explosionen, wurde mir klar, dass ich aufgehört habe zu träumen und diesen Träumen nachzugehen, wie ich es früher getan habe.

Wir hatten gerade angehalten, um unsere Tankwagen zu treffen, die unter den Bäumen ihre Tanks füllten. Die Männer hatten gebräunte Gesichter und zerschundene Hände. Sie freuten sich, uns zu sehen und frisches Brot und kühles Wasser von unseren Freiwilligen zu erhalten. Nach dem Auftanken werden sie in die Schlacht ziehen, um den Feind aufzuhalten, der wütend durchbricht…»

Nur ein Wunder kann Veränderung schenken

Soweit der Bericht von Anatoliy Raychynets. Während die Kämpfe weiter toben, ruft er in einer anderen Videobotschaft dazu auf, weiter zu beten, für die Menschen einzutreten und die Wahrheit über die Realitäten des Krieges zu verbreiten. Trotz der Schwierigkeiten unterstreicht Raychynets die Stärke und Unverwüstlichkeit der Soldaten und Gläubigen, die ihr Land im Dienste des Wortes Gottes verteidigen. Er drückt seine tiefe Dankbarkeit für die bisher erhaltene Hilfe aus und ruft zu weiterer Unterstützung auf, wobei er betont, dass nur ein Wunder Gottes die Situation in der Ukraine verändern kann.

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Autor: Anatoliy Raychynets
Quelle: Schweizerische Bibelgesellschaft

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