Wann ist ein «Genug» erreicht?

Narut und Biene
Ende September wird in der Schweiz über eine Initiative rund um Biodiversität abgestimmt. Sarah Bach und Lukas Gerber fragen sich, ob mit den ins Feld geführten Parolen wirklich alle abgeholt werden.

In Grün, Gelb und Blau leuchten die Fahnen an Balkonen und Zäunen: «Unsere Natur. Unsere Lebensgrundlage. JA zur Biodiversität» steht darauf. Ein Bündnis verschiedener Organisationen will den Schutz der Artenvielfalt in der Schweizer Bundesverfassung verankern. Mit mehr als 100'000 gültigen Unterschriften wurde die Biodiversitätsinitiative «Für die Zukunft unserer Natur und Landschaft» vor zwei Jahren eingereicht.

Gefordert wird darin, mehr Flächen für den Naturschutz auszuweisen und mehr Geld für ihre Erhaltung und Erweiterung bereitzustellen. Etwa jede dritte Tier- und Pflanzenart sei gefährdet oder sogar ausgestorben, so argumentieren die Befürworter.

Bundesrat und Parlament empfehlen, die Initiative abzulehnen. Auch der Schweizer Bauernverband ist dagegen. Dass nicht nur mehr Fläche ausgewiesen werden soll, sondern auch Landschaften und Ortsbilder ausserhalb von Schutzgebieten geschont werden können, gehe zu weit. Die Gegner der Initiative setzen ebenfalls auf Fahnen: «Nein! zur extremen Biodiversitätsinitiative» bekunden die weiss-roten Banner. Am 22. September darf das Stimmvolk über die Vorlage entscheiden.

Kräftig ausgeteilt

Bereits seit Ende Juli werden kraftvolle Bilder und Worte ins Feld geführt. «Nutzung verhindern?», fragt ein Anzeigenmotiv, auf dem ein Baum zu sehen ist. «Tschüss Schweizer Holz!», lautet die pauschale Antwort. Oder aus derselben Reihe: «30 % Fläche weg? Tschüss Schweizer Lebensmittelproduktion!» Dass der Ständerat die Initiative ablehnt, nennt der Bauernverband einen «Entscheid der Vernunft», als wäre alles andere pure Dummheit. Behauptet wird, es gehe um eine «extreme» Biodiversitätsinitiative, die Einschränkungen verursache und das individuelle Leben verteuere – sodass die persönliche Freiheit auf dem Spiel stehe. Das klingt, als könnte der Slogan auch heissen: «JA zur grenzenlosen Möglichkeit.» Müssen Kernworte wie Individualität und Selbstverwirklichung mit einer getarnten Botschaft kaschiert werden? Wird deshalb der Spiess umgedreht und die Initiative «extrem» genannt?

Andersherum bezeichnen die Befürworter die Ablehnung als «Angstkampagne», dabei verlange die Lage doch «nach einer ernsthaften Debatte» – als könnte keine andere Argumentation einem ernsthaften Nachdenken entspringen. Die Botschaft der Initiative ist ganz oben aufgehängt: Es geht um nichts weniger als ums Überleben, als müsste man das Ruder dieses Schiffes namens Erde, das dem Abgrund zusteuert, in letzter Sekunde noch rumreissen. Auf dieser Prämisse beruht der ganze Textinhalt: Biodiversität sei unsere Lebensgrundlage, die auf dem Spiel stehe. Ausserdem gebe sie uns ein Heimatgefühl. Gern betont wird darin auch das in der Regel positiv konnotierte Wort «Verantwortung». Unsere Verantwortung derart zu bekräftigen, birgt aber die Kehrseite, dass die Lösung ausschliesslich bei uns liegt: Entweder wir handeln oder wir gehen unter.
 

Sarah Bach ist Pfarrerin und arbeitet an der Uni Zürich an ihrer Doktorarbeit

Aufeinander hören

Bei beiden Positionen fühlen sich immer die einen in ihrer Haltung bestätigt, während andere sich kopfschüttelnd ärgern. Die Schwierigkeit beim Gebrauch emotional aufgeladener Schlagworte ist, dass sie zwar oft Zustimmung generieren, aber nur bei jenen Menschen, die der Argumentationslinie bereits zugeneigt sind. Diese werden dadurch erfolgreich abgeholt, während bei Menschen mit anderer Meinung mehr Unverständnis erzeugt wird.

Noch kritischer als die geweckten Emotionen der angeführten Parolen sehen wir, dass zu befürchten ist, dass viele politische Akteure nicht mehr mit diesen extremen Slogans aufhören können. Dies führt aber auch dazu, dass die unterschiedlichen Seiten nicht mehr aufeinander hören können. Ein Aufeinander hören ist aber unentbehrlich, um Lösungen zu finden, die für alle gut sind. Und nicht zuletzt: Das Hören auf den anderen schützt vor Selbstüberschätzung. Um Masshalten zu können – oder eben aufhören zu können –, brauchen wir vor allem diejenigen, die so ganz anders sind als wir selbst.

Wie können wir in einem Abstimmungskampf sowie in unseren Diskussionen in der Kirchgemeinde, am Arbeitsplatz und in der Nachbarschaft unsere Motivation ins Feld führen, ohne jene Menschen mit einer Gegenmeinung als «dumm» oder «nicht ernsthaft» zu diffamieren?

Überschätzt?

Sowohl bei Befürwortern wie auch Gegnern stellen wir uns die Frage, ob sie sich in ihrem Wissen überschätzen. Beide bewerten die Lage sehr gegensätzlich, vor allem im Hinblick auf den Menschen und seine Möglichkeiten:

Die Gegner sind der Meinung, dass bereits genug getan wird. Der Bauernverband betont, die Landwirtschaft fördere heute schon stark die Biodiversität. Doch wer entscheidet, wann ein «Genug» erreicht ist? Es kann tatsächlich sein, dass die Landwirtinnen und Landwirte bereits sehr viel zur Biodiversität beitragen, aber z. B. Grossdetailhandel wie Coop oder Lidl mit ihren Preisdiktaten dafür sorgen, dass die Landwirtschaft faktisch nicht mehr tun kann. Die Macht des Individuums ist also begrenzt, da stimmen wir den Gegnern teilweise zu. Es gibt grössere Strukturen, die die individuelle Macht begrenzen. Gleichzeitig setzen wir unserem Handeln oft verfrüht Grenzen, wenn etwa unser Wohlstand in Gefahr steht.

Auf der anderen Seite sagen die Befürworter, dass wir mehr tun müssen. Sie gehen also davon aus, dass der Mensch die Macht hat, die Biodiversität zu schützen. Die Argumente sind auf die bedrängten Ressourcen reduziert. So werden wir zu den Ressourcenwächtern, die selbst wissen müssen, wann genug ist. Aber können wir dieser selbstgewählten Aufgabe und diesem Anspruch überhaupt genügen?
 

Lukas Gerber ist Koordinator für Theologie und Bildung bei StopArmut und verantwortet die Projekte Eco Church Network und Just People-Kurs.

Zukunftsbilder

Als Theologin und Theologe fragen wir uns, ob Kirchen auch einen Beitrag zu dieser Debatte beisteuern können. Welches Bild oder welche Vision können wir beleben?

Gott gibt uns in biblischen Texten verschiedene Bilder für erfülltes Leben, an denen wir uns orientieren und die uns motivieren können. Zukunftsbilder, bei denen es nicht nur um das menschliche Überleben geht und Visionen, die ein Wohlergehen fern von materiellem Wohlstand und individuellen Privilegien zeichnen. In den Schöpfungserzählungen erkennen wir die Zusage Gottes, dass die Erdengemeinschaft gut ist. In der Menschwerdung Gottes wird diese Zusage erneuert und wir sehen, dass Gott uns und diese Welt nicht aufgibt. Im Reich Gottes erhalten wir die Möglichkeit, gemeinsam mit Gott an einer gerechteren und friedvolleren Welt zu arbeiten. Über diese Bilder gilt es, in unseren Kirchen nachzusinnen und sie zu beleben.

Weil wir diese Erde und das Leben lieben, wollen wir nicht bloss überleben, sondern leben. Weil wir uns mit dieser Erde verbunden fühlen, können wir erkennen, dass es nicht nur um uns Menschen geht. Gott stärkt uns, um in dieser Verbundenheit für unsere Nächsten in der gesamten Schöpfung einzustehen. In unseren Kirchgemeinden, in gottesdienstlichen Handlungen oder in theologischen Vertiefungen kann eine tie­fergehende Auseinandersetzung mit den Themen Schöpfung, Biodiversität und Klimawandel erfolgen. Wenn der Wert der gesamten Schöpfung für Christinnen und Christen nicht nur ein opportunistischer Wert ist, sondern das ganze Jahr durch als gutes Werk und Wohnort Gottes verstanden wird, dann kann auf Slogans, die auf das blosse Überleben der Menschheit abzielen, verzichtet werden. Gleichzeitig können Menschen dadurch gestärkt werden, sich nicht nur für grenzenlose Möglichkeiten, sondern für den Erhalt der Biodiversität einzusetzen, auch wenn es sie etwas kostet.

Zum Thema:
Ökologie: Wenn Menschen nicht gegen, sondern mit der Natur arbeiten
Christ und Klimaaktivist: Ist es unsere Aufgabe, das Klima zu retten?
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Autor: Sarah Bach / Lukas Gerber
Quelle: Magazin andersLeben 03/2024, SCM Bundes-Verlag

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