Was mit Paaren geschieht, wenn einer abhängig wird

Mann, der einen Joint hält
Kaum etwas verändert Menschen mehr als eine Sucht. Oft wissen die Partner nicht, wie damit umzugehen ist. Der Psychotherapeut Jörg Berger klärt auf und gibt Tipps.

Ehrliche Menschen verbergen Flaschen oder Tabletten. Sie tun nachts, was sie vor den Augen des Partners nicht wagen würden. Sie erklären überzeugend, warum das Geld gerade knapp ist, und lenken so von den Folgen der Sucht ab. Dabei handeln Menschen, die sonst gefestigt sind, gegen ihre tiefsten Überzeugungen. Sie vernachlässigen den Ehepartner, die Kinder, den Freundeskreis. Ihr Einsatz im Beruf erlahmt, weil erst die Sucht die Kräfte beansprucht und später der einsame, vergebliche Kampf gegen sie. Auch kluge Abhängige halten sich an Illusionen, die die Wirklichkeit längst widerlegt hat: «Es war nur ein Ausrutscher. Ich habe es unter Kontrolle.» Manchmal scheint der Partner auch wieder ganz der alte zu sein. Doch der nächste Moment offenbart, dass von dem Menschen, zu dem man einmal Ja gesagt hat, nur noch ein Rest übrig ist.

Weil die Sucht so viel Macht über Menschen gewinnt, sehen Fachleute sie als Krankheit. Deshalb kann ich Ihnen hier keine Tipps geben, wie Sie Ihrem abhängigen Partner helfen. Genauso gut könnten wir einen Chirurgen bitten, ein paar Ratschläge zusammenzustellen, wie Sie Ihrem Partner den Blinddarm operieren. Der Chirurg würde antworten: «Bitte versuchen Sie das nicht selbst. Fahren Sie Ihren Partner besser ins Krankenhaus.»

Zugegeben: Der Vergleich hinkt auf beiden Füssen. Denn es ist bei einer Sucht nicht offensichtlich, dass es sich um eine schwere Erkrankung handelt. Ausserdem will sich der abhängige Partner meist nicht ins Krankenhaus fahren lassen und auch keine andere Form von Behandlung in Anspruch nehmen. Um dieses Spannungsfeld geht es in diesem Artikel.

Sie sind nicht allein

Wer ist süchtig? Bei jeder Sucht wirkt etwas stimulierend oder beruhigend auf das Nervensystem ein. Das können Substanzen sein, zum Beispiel Alkohol, Drogen, Schmerzmittel oder Schlafmittel. Das können auch Erlebnisse sein wie Sex, Romanzen, Pornografie, Glücksspiel oder Kaufen. Weil sich das Gehirn an die Reize gewöhnt, treten Entzugssymptome auf, wenn das Suchtmittel oder Suchtverhalten fehlt. Ausserdem muss mit der Zeit die Dosis gesteigert werden, um die gleiche Wirkung zu erzielen. Dadurch vernachlässigen Betroffene irgendwann ihre Beziehungen und Verpflichtungen. Obwohl immer mehr Schaden entsteht, können sie von ihrer Sucht nicht lassen.

Hier unterscheiden sich die «sanften Süchte» (was verharmlosend klingen kann): ab und zu ein Glas zu viel, gelegentlich ein Kaufrausch, der das Konto strapaziert, erotische Filme im Internet, die man eigentlich lieber nicht sehen würde. Zwar kommt es auch hier zum Kontrollverlust und zu Folgeproblemen, zum Beispiel zu Spannungen in der Partnerschaft. Aber das Suchtverhalten schädigt die übrigen Lebensbereiche nicht. Das Suchtverhalten steigert sich auch nicht im Lauf der Zeit. Diagnosesysteme ordnen das als «Missbrauch» oder «schädlichen Gebrauch» ein. Wenn Betroffene zu einer Veränderung motiviert sind, helfen hier manchmal gute Vorsätze, gemeinsame Anstrengungen oder eine seelsorgerische Begleitung. Manchmal sind die Suchtmechanismen aber auch hier hartnäckig.

Weil zu jeder Sucht die Heimlichkeit gehört, unterschätzen wir, wie viele Menschen sie gefangen hält. Beispielsweise sind etwa drei Prozent unserer Bevölkerung alkoholabhängig (weitere drei Prozent missbrauchen Alkohol), die Häufigkeit der Kaufsucht wird je nach Studie auf ein bis acht Prozent der Bevölkerung geschätzt. Um es anschaulich zu machen: Nehmen wir an, Ihr Freundes-/Familien-/Kollegen- und Bekanntenkreis bestünde nur aus 100 Personen (es sind mehr). Dann sind darunter drei alkoholabhängige und wohl mindestens zwei kaufsüchtige Personen. Und dabei haben wir viele andere Süchte noch gar nicht berücksichtigt. Auch wenn es sich so anfühlen mag, wenn Ihr Partner von einer Sucht betroffen ist: Sie sind nicht allein.

Ein langer, langer Weg zur Freiheit

Ich würde Ihnen gerne etwas anderes schreiben, doch in der Suchttherapie ist das Verhältnis von Aufwand und Nutzen nur schwer zu ertragen. Für eine vergleichsweise kleine Veränderung – das Suchtverhalten zu lassen – ist ein immenser therapeutischer Aufwand nötig. Manchmal steht eine Klinikbehandlung am Anfang, bei der Alkoholabhängigkeit zum Beispiel eine Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung. Danach braucht es eine intensive und lange ambulante Begleitung, die von einer Selbsthilfegruppe oder einem vergleichbaren Onlineangebot unterstützt wird. Wer sich hier überschätzt und die langen Behandlungswege abkürzen will, fällt bald in sein altes Verhalten zurück. Doch auch bei bester fachlicher Begleitung müssen viele über Jahre mit Rückfällen rechnen. Das schreckt Betroffene ab, ernüchtert Fachleute und erschüttert Glaubende beider Seiten: «Warum, Gott, schenkst du in deiner Allmacht nicht schneller Befreiung?» Aber von ermutigenden Einzelfällen abgesehen müssen auch Glaubende lange Wege im Vertrauen gehen. Ich tröste mich so: Wer lange gegen die Sucht kämpft, wird demütig. Im Fallen und Wieder-Aufstehen, in der Erfahrung der eigenen Ohnmacht, in der Abhängigkeit von geduldiger Hilfe reift eine barmherzige Persönlichkeit, die sich nie mehr über andere stellt.

Hilfe oder Komplize?

Wenn Ihr Partner abhängig ist, leiden Sie mit und wollen helfen. Doch die Macht der Sucht zieht Sie vermutlich in ein Verhalten, das sich Co-Abhängigkeit nennt: Sie kontrollieren Ihren Partner, wo er sich selbst nicht kontrolliert. Der wird das manchmal dankbar aufnehmen und manchmal gereizt zurückweisen. Sie entlasten den abhängigen Partner von Verantwortung und helfen beim Verheimlichen. So ersparen Sie dem Anderen Konsequenzen, die das Suchtverhalten eigentlich hätte. Dadurch werden Sie aber zur Komplizin oder zum Komplizen der Sucht. Wenn sich etwas ändern soll, muss Ihr Partner aktiv werden. Von den wenigen Dingen, die Sie tun können, hat sich Folgendes bewährt:

  • Nehmen Sie an einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von Suchtkranken teil. Sie werden staunen, wie ähnlich es anderen Partnerinnen und Partnern geht.
  • Treten Sie aus der Heimlichkeit, wenn es Ihr Partner nicht tut. Auch Ihnen geht es nicht gut. Bei vielen Partnern von Suchtkranken treten bald psychosomatische und psychische Beschwerden auf. Sie haben ein Recht darauf, dass zumindest einige Vertrauenspersonen Bescheid wissen, ob es Ihrem Partner nun gefällt oder nicht. Offenheit kann auch zur Verhandlungsmasse für eine Veränderung werden: «Wenn du dir bis zum Sommer keine fachliche Hilfe suchst, dann werde ich meinen Eltern/meinen Freunden ganz offen sagen, dass wir in Not sind und was die Gründe dafür sind.»
  • Suchtverhalten hat die Macht, jede Liebe zu zerstören. Eine räumliche Trennung kann daher nicht nur ein Weckruf für den abhängigen Partner sein, sondern manchmal die einzige Massnahme, die Ihre Liebe vor der Zerstörung schützt: «Wenn du keine fachliche Hilfe annimmst, müssen wir uns räumlich trennen.» Weil eine Trennung viele Folgen hat, lassen Sie sich hier am besten auch selbst von einem guten Ansprechpartner begleiten.
  • Lassen Sie sich von der Sucht Ihres Partners nicht lähmen. Bauen Sie starke Freundschaften auf und achten Sie darauf, dass die Sucht dort nicht zum beherrschenden Gesprächsthema wird. Suchen Sie auch alleine schöne und aufbauende Erlebnisse. Gegenüber der Sucht Ihres Partners sind Sie machtlos, aber Gott hat andere Orte, an denen Sie sich engagieren, etwas bewegen und Ihre Berufung leben können.
  • Wenn sich Ihr Partner in eine qualifizierte Behandlung begibt, dann helfen Sie mit Geduld und Ermutigung. Sehen Sie nicht ängstlich auf Fortschritte und Rückschritte, sondern stellen Sie sich auf einen langen Weg der Heilung ein. Bauen Sie allmählich gemeinsam wieder auf, was Ihre Beziehung wertvoll macht.

Eine spirituelle Sicht der Sucht

Moderne Menschen blicken manchmal überheblich in die Bibel. Wo die Autoren des Neuen Testamentes von bösen Geistern sprechen, da kennen wir heute angeblich die Diagnosen der Menschen, die Jesus befreit hat: Epilepsie, Schizophrenie oder andere. Die moderne Medizin und Psychiatrie ersetzen dann die alten Vorstellungen von Besessenheit. Mich überzeugt das nicht. Ich kenne die psychologischen, physiologischen und neurobiologischen Modelle der Sucht. Aber können die wirklich erklären, dass Menschen derart die Kontrolle über ihr Verhalten verlieren? Dass sie ein Leben führen, das nicht im Entferntesten ihrer eigenen Überzeugung und ihren eigenen Werten entspricht? Da wirken Kräfte im Menschen, für die die fachlichen Erklärungen dürftig sind. Vermutlich ist es daher falsch, spirituelle und wissenschaftliche Sichtweisen gegeneinander auszuspielen. Wer eine Sucht nur als Werk des Teufels sieht, wird Betroffenen ebenso wenig gerecht wie der, der sie mit der spirituellen Dimension des Problems alleine lässt. Jesus hat eine Art des Betens gelehrt, die den Einfluss des Bösen bricht, die biblische Tradition hat Wege aufgezeigt, wie Sie Ihr Leben immer mehr unter die gute Macht Gottes bringen. So würde ich zwar das suchtmedizinisch Notwendige tun, das spirituell Gebotene aber nicht lassen.

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Autor: Jörg Berger
Quelle: Magazin Family 06/2017, SCM Bundes-Verlag

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