Macht und Ohnmacht der Lebensgeschichte

Ein Zeugnis kann hilfreich, aber auch manipulativ sein. (Symbolbild)
Die eigene Lebensgeschichte ist für viele Christen eine besondere Möglichkeit, für den Glauben zu werben. Das kann legitim und gewinnend sein oder auch manipulativ.

Dora ist eine typische Christin. Sie liebt Gott und möchte ihn gern zum Gesprächsthema in ihrem Umfeld machen. Dafür fühlt sie sich allerdings nicht besonders kompetent: «Ich bin ja schliesslich keine Pastorin.» Also lädt sie andere gern zu Veranstaltungen ihrer Gemeinde ein und rechnet damit, dass dort der Funke überspringt. Gefragt, ob sie selbst auch so zum Glauben gefunden hat, muss sie lachen: «Nein, ich doch nicht. Meine Freundin hat mir davon erzählt, wie sie Jesus begegnet ist – das hat mich erst ins Fragen gebracht und dann überzeugt.»

Typisch ist daran, dass Dora wie viele andere die sogenannte Veranstaltungsevangelisation überschätzt. Diese spielt nicht einmal für 5 Prozent aller Hinwendungen zu Jesus eine Rolle. Gleichzeitig unterschätzt sie die eigenen Erfahrungen mit Gott, durch die nicht nur sie, sondern über 70 Prozent aller Christen zu Gott finden. Was ist also dran am sogenannten «Zeugnis»? Am Erzählen der eigenen Lebensgeschichte? Wann ist es hilfreich und ab wann wird es manipulativ?

Die Stärken der eigenen Geschichte

Wer von seinem Leben und Erleben erzählt, tut genau das, was Jesus einmal so umschreibt: «Wovon das Herz voll ist, davon redet der Mund.» Christen sehen darin aber noch mehr; sie erkennen Gottes Auftrag, «allezeit bereit zur Verantwortung gegenüber jedermann» zu sein, wenn sie ihren Glauben und den Weg dahin schildern. Das eigentlich Starke an diesem Erzählen liegt in der Nachvollziehbarkeit. Ich kann von mir berichten, von meinen eigenen Fragen, Entscheidungen, Zweifeln und Überzeugungen. Das ist weder ein Angriff auf mein Gegenüber noch ist es allgemeinverbindlich. Im besten Falle ist es aber einladend, denn es zeigt an einem (meinem!) Beispiel, wie Gott Menschen begegnet.

Solch ein Lebensbericht ist quasi unangreifbar, denn er ist immerhin meine Erfahrung. Darin steckt aber gleichzeitig seine Grenze: Wer diesen persönlichen Bereich verlässt und sein Gegenüber auffordert: «Auch du kannst genauso zu Jesus kommen», hat angefangen zu predigen. Das kann richtig sein oder auch unpassend. In der Regel überzeugt die eigene Lebensgeschichte bereits durch ihre Echtheit, Zurückhaltung, wo es zu intim wird, und fehlende Übertreibung. Damit lädt sie automatisch zum Nachdenken und Selberglauben ein.

Es gibt sogar Schulungen für dieses Erzählen. Für manche Christen sind sie hilfreich, weil sie ihnen helfen, sprachfähiger zu werden. Der Nachteil daran ist, dass sich die verschiedenen Lebensberichte danach immer mehr ähneln und ein wenig wie schlechte Abziehbilder eines unbekannten Originals wirken können, dabei hat jedes Lebenszeugnis seine besondere Kraft. In der Gemeinde ermutigt es andere Christen, darüber hinaus lädt es Menschen zum Glauben ein. Bis heute stehen vollmächtige Predigten, inspirierende Musik und eine Wohlfühlatmosphäre ganz oben auf der Erwartungsliste von Gemeinden. Doch nach wie vor begegnen die meisten Menschen Gott, nachdem ihnen andere erzählt haben, was er in ihrem Leben getan hat. Geschichten haben Macht.

Das Risiko der Manipulation

Gerade diese Macht lädt aber auch zum Missbrauch ein. Ich kann durchaus fragen: «Was meinst du dazu?» oder ich kann meinem Gegenüber die Deutung bereits mitliefern. «Mach es wie ich und du wirst Erfolg haben/leben/gerettet werden.» Hinter diesen Äusserungen steckt nicht nur missionarischer Eifer, sondern oft eine verzerrte Wahrnehmung, die in der Psychologie als «Survivorship Bias» bezeichnet wird (etliche Beispiele dafür finden sich hier). Dabei geht es darum, dass tote Zeugen nicht reden können. Der Mathematiker Nassim Taleb erzählt dazu in seinem Buch «Der Schwarze Schwan» eine Geschichte aus der Antike: Einem nicht Gläubigen werden Bilder von Betenden gezeigt, die ein Schiffsunglück überlebt haben. Die Aussage scheint klar: Ihr Gebet hat diese Menschen vor dem sicheren Tod gerettet. Doch der Ungläubige fragt zurück: «Und wo sind die Bilder derjenigen, die auch gebetet, aber das Unglück nicht überlebt haben?»

Nach demselben Muster wollen Erfolgscoaches ihre Kurse verkaufen und Buchautoren ihre Ratgeber: Eine zufällige Abfolge wird dabei in einen ursächlichen Zusammenhang gesteckt. Für die eigene Lebensgeschichte ist es wichtig, bei dem zu bleiben, was ich erlebt habe. Und es ist wichtig zu wissen, dass Gott einiges verspricht, anderes aber nicht. «Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt», sagt Jesus zu. Er sagt aber nicht, dass jeder Mensch, der glaubt, gesund wird oder reich, Erfolg hat oder einen Partner fürs Leben findet und vieles mehr. Selbstverständlich kann ich mich darüber freuen, dass Gott mir eine Partnerin «geschenkt» hat, aber dahinter steckt kein Muster («Glaube nur, dann erlebst du es auch…»). Hier gilt es, sensibel zu werden, um nichts Falsches zu versprechen, denn niemand möchte in den Glauben hinein überredet werden. Ein echter Lebensbericht muss nicht «gepimpt» werden – er hat in sich Kraft genug.

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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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