Über eine neue Frage und einen kleinen Extra-Moment Zeit

Wie grüssen Sie andere auf der Strasse?
Wie oft wurden Sie schon mit den Worten «Alles gut?» gegrüsst? Eine Frage, die nicht viele Antwortmöglichkeiten lässt…

Wir sassen und dämmerten ein wenig vor uns hin, jeder auf seinem harten Stuhl in der Sakristei einer Kirche, irgendwo in Schweden – der emeritierte Bischof von Linköping, Martin Lönnebo, und ich. Seine Augen waren geschlossen, und ich glaube, er war gerade ein wenig weggenickt, um Kraft zu sammeln vor dem Gottesdienst, der uns erwartete.

Plötzlich sagte er: «Es gibt nichts, was mich so traurig macht wie Predigten zum Thema Freude.» Dann war er wieder eine Weile still, hielt die Augen geschlossen und ergänzte schliesslich: «Aber wenn jemand ganz ehrlich über seinen Kummer spricht, dann werde ich richtig froh.»

Kleiner, aber feiner Unterschied

Ich musste an diese kleine Szene denken, als eine Zuhörerin neulich nach einer Veranstaltung in der Kirche von Tölö zu mir kam und mich darauf aufmerksam machte, dass die gängige Frage «Wie geht’s dir?» durch das ganz anders geartete «Alles gut?» ersetzt worden sei. Die neue Frage mache von vornherein deutlich, dass man eine kurze und positive Antwort erwarte.

Mir wurde sofort klar, dass ich zu denen gehöre, die fast ausnahmslos «Alles gut?» fragen – und dass ich damit aufhören sollte. Zu fragen, ob alles gut ist, ist natürlich besser als überhaupt keine Frage zu stellen. Und doch weist die Beobachtung dieser Frau auf etwas Wichtiges hin – etwas, das mit der Bewegung in unseren Begegnungen zu tun hat. Ob wir uns einander nähern oder voneinander entfernen.

Wenn sich der Abstand verringert

Dabei ist unsere Art zu reden ganz entscheidend. Was wir da sagen, bedeutet ja etwas. Zwei Menschen, die miteinander reden, sind immer auch in einer Bewegung begriffen. Wenn wir es wagen, einander von den Abgründen unseres Lebens zu erzählen, von den Dingen, die nicht gut laufen, dann verringert sich der Abstand. Wir werden zueinander gezogen, und in solch einem Gespräch ist da plötzlich auch Raum für eine erstaunliche Freude. Deshalb können gerade schwierige Gespräche manchmal eine überraschende Erleichterung bewirken. Und umgekehrt hält jemand, der seine Wunden nie sichtbar macht, andere Menschen unbewusst auf Distanz. Erst viel zu spät entdeckt er, dass er in seiner «Alles-ist-gut-Welt» einsam geworden ist.    

Erst wenn man sagen darf, dass nicht alles gut ist, kann es besser werden. So seltsam sich das anhört.

Der kleine Extra-Moment

Vielleicht hat das etwas mit Wahrheit zu tun. Wenn Jesus sagt, dass die Wahrheit uns frei machen wird, geht es nicht nur um das Bekennen von Sünde. Sein Satz ist ein Wegweiser zu mehr Mut und zu einer wiedergefundenen Lebensfreude. Es passiert so schnell, dass man auf eine irgendwie verlogene Art und Weise spricht, auch wenn man dabei gar nicht explizit lügt, sondern nur Teile der Wirklichkeit unsichtbar macht. Dann kann man so positiv sein, wie man will, die Menschen um einen herum werden dennoch nicht froh. Nur in der Wahrheit ist die Freiheit zu finden.

Woran ich mich selbst und andere erinnern möchte, verlangt keine grosse Kraftanstrengung. Nur den Mut, einen kleinen Extra-Moment bei einer der alltäglichsten, aber vielleicht auch wichtigsten Fragen zu verharren: «Wie geht es dir?»

Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Buch «Es gibt so viel, was man nicht muss» vom schwedischen Pastor und Autor Tomas Sjödin.

Zum Thema:
Livenet-Talk mit Michael Sieber: Tragfähige Beziehungen schaffen
Alles hat seine Zeit: Wenn jeder Augenblick wichtig ist

Autor: Tomas Sjödin
Quelle: Magazin Aufatmen 2/2018, SCM Bundes-Verlag

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