Im falschen Körper gefangen?
«Ich erinnere mich noch sehr gut an mein erstes Dreirad», erklärt Lynn. «Ich bat meinen Vater immer wieder, mir anstelle des Lenkers ein Steuerrad zu montieren.» Zu ihrer grossen Freude setzte er ihren Wunsch um. «Mein Lieblingsbilderbuch hiess: 'Der Prinz im Wald', erzählt sie weiter. «Dieser kleine Kerl baute sich mit Material, das er auf einer Müllhalde fand, ein eigenes Auto zusammen. Ein Traum!» Zu gerne hätte Lynn genauso eines gehabt, sie bat ihre Mutter darum. Obwohl das nicht gelang, war Lynn glücklich, dass ihre Eltern sie ernst nahmen.
«Lynn könnte auch ein Junge sein»
Mehr als einmal sagte Lynns Mutter: «Aus ihr hätte es gut auch einen Jungen gegeben…» Als die Sonntagsschulkinder einen Teddy geschenkt bekamen, bat Lynn ihre Mama, ihm ein Herrenhemd und eine Krawatte zu nähen. Ein anderes Mal führten vier Mädchen mit Lynn zusammen die Geschichte von «Hänsel und Gretel» auf. Lynn durfte den Vater spielen. Sie schlüpfte in Jeanshose und -jacke und verstaute ihre langen Haare unter einem Hut. «Endlich fühlte ich mich wohl in meiner Haut, denn genau so wollte ich aussehen!», erinnert sie sich. «Ich wollte nichts lieber als ein Junge sein.»
So zieht man sich an
Weil Lynn in einer konservativen Freikirche aufwuchs, gestaltete sich das als sehr schwierig. Statt mit Jeans und kurzen Haaren durch die Gegend zu flitzen, trug sie meistens einen Rock und zwei Zöpfe. Sie war unverkennbar ein Mädchen. Doch sie fühlte anders: «Die Küche interessierte mich nicht. Kochen und Backen konnte, wer wollte, ich war lieber in Feld und Wald unterwegs», stellt sie klar. Auch beim Singen stimmte sie nicht in die hohen Töne ein: «Bei vierstimmigen Chorliedern sang ich den Bass. Das ist übrigens heute noch so…»
Im falschen Körper?
Als junge Erwachsene hörte Lynn von Menschen, die sich im falschen Körper fühlen, von Frauen, die sich kleiden als wären sie Männer, und umgekehrt: «Wie gut konnte ich sie verstehen!» Schon damals gab es solche, die sich entsprechend operieren liessen. Doch damit konnte sich die Zwanzigjährige nicht identifizieren: «Ich spürte: Wenn du das tust, bist du am Schluss gar nichts mehr.»
Allerdings landete sie in Kleiderläden fast immer in der Männerabteilung. Als eine Freundin fand: «Lynn, in dieser Abteilung hast du einfach nichts verloren!», wurde ihr klar, dass sie selbst Menschen auch klar als männlich oder weiblich erkennen möchte. Sie ist überzeugt: «Wir wollen wissen, wen wir vor uns haben.»
Veränderung geschieht
Schliesslich entschied sie sich mit etwa dreissig Jahren dafür, einfach Frau zu sein. «Als ich mir meine Fussnägel zum ersten Mal anmalte, war das ein unglaublich befreiendes Gefühl, ähnlich wie damals, als ich bei 'Hänsel und Gretel' den Vater spielen durfte.» Dann schmunzelt sie: «Ich hätte ein erbärmliches 'Männchen' abgegeben, bin ich doch bereits zehn Zentimeter kleiner als die Durchschnittsfrau. Da wäre es echt anstrengend, meinen 'Mann' stehen zu müssen!»
Heute fühlt sie sich wohl in ihrem Körper als Frau. Sogar in der Küche steht sie mittlerweile gerne. Doch wenn Gott sie fragen würde, mit welchem Geschlecht sie geboren werden wollte, wäre die Antwort: als Junge.
Was wäre, wenn…
Mit grosser Besorgnis verfolgt Lynn die Genderdebatte. «Wenn ich jetzt zwölf Jahre alt wäre und in einer nicht-christlichen Familie aufwachsen würde…», sagt sie nachdenklich. «Ich würde mir vermutlich täglich die Frage stellen, ob ich meine weiblichen Merkmale ein für alle Mal beseitigen lassen soll…» Doch in ihrem Umfeld trugen Mädchen damals Rock und Zöpfe – es gab einfach keine Diskussion. Ihr hätte das geholfen, bestätigt Lynn. Sie appelliert an Eltern, die Identitätskrise ihrer Kinder auszuhalten, bis sie selbst ein Ja zu ihrem biologischen Geschlecht gefunden haben.
Genitalverstümmelung nein, Geschlechtsumwandlung ja…
Die westliche Gesellschaft setzt sich gegen die Genitalverstümmelung von Mädchen ein. Gleichzeitig lässt sie zu, dass Teenager ohne Zustimmung der Eltern ihre Geschlechtsteile entfernen lassen können. Für Lynn ist das ein Verbrechen. «Ist diese ganze Gender-Überbetonung nicht ein kläglicher Versuch, sein zu wollen wie Gott, nämlich zu bestimmen, was richtig und was falsch ist? Bei diesem Unterfangen geht der Schuss immer nach hinten los!»
Kein Wunschkonzert
Die Frage, ob sie im falschen Körper gefangen ist, beantwortet sie so: «Vielleicht. Ich wäre gerne ein Mann. Aber mal ehrlich, wenn eine Person unter MS oder Osteoporose leidet, fühlt sie sich nicht ebenso oder noch viel mehr im falschen Körper? Sie kann nicht einfach schnell etwas wegschnipseln.» Wir lebten leider nicht mehr im Paradies, führt sie aus. «Ist es so wichtig, ob ich mich im falschen Körper fühle? Ist es nicht viel wichtiger, dass ich den Auftrag, den ich von Gott bekommen habe, erfülle?» Sie wolle ihr Potential in die Gesellschaft einbringen. «Wenn Gott meint, dass ich das als Frau tun soll, dann mache ich es als Frau. Seine Ideen sind meiner Erfahrung nach immer ausgefeilter als meine!»
Als Beispiel nennt sie Männer mit schwindendem Haar. «Es gibt Männer, die ziehen die restlichen Haare über ihre Glatze. Man sieht sie trotzdem. Und wehe, es kommt ein starker Luftzug, dann wird es peinlich...» Ein Mann mit kurz geschorenem Haar dagegen zeige, dass er sich so akzeptiere. «So sehe ich mein Frausein. Es ist nicht erste Wahl, aber es ist okay. Zugegeben, es war nicht immer einfach und hat mich manchmal auch Tränen gekostet. Aber es lohnt sich!»
*Lynn ist ein Pseudonym, der echte Name ist der Redaktion bekannt. Nachfragen per E-Mail.
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