«Opa, Eisenbahn!»

Hartmut Zeschky entspannt sich beim Modellbauen.
Wie das scheinbar altmodische Hobby Modellbahnbau den Alltag entschleunigt und zum christlichen Glauben einlädt.

Eine Hupe erklingt. Aus dem Dunkel des Tunnels tauchen drei Lichter auf. Eine grüne Diesellock mit der Aufschrift «Enercon – Energie für die Welt» zieht langsam, aber geräuschvoll sechs Wagen hinter sich her. «Vorsicht bei der Einfahrt», tönt eine Lautsprecherdurchsage durch den XXL-Hobbyraum von Hartmut Zeschky. Der 61-Jährige überblickt lächelnd sein Reich. «Wir fahren hier nicht nach Fahrplan, sondern geniessen den Feierabend», spricht’s und bietet mir ein alkoholfreies Bier an. Ich platziere mich auf einer original D-Zug-Bank, dem Lieblingsplatz der Enkel. Über mir im Gepäcknetz liegen zwei Koffer. «Die Kinder lieben es, an diesem Ort Geschichten vorgelesen zu bekommen.» Die Umhängekasse des Schaffners steckt noch voller D-Mark-Münzen. Ich öffne den silbernen Mülleimer. Dessen metallischer Klang versetzt mich in meine Kindheit. Ich höre den Ruf meiner Mutter: Finger weg! «Fehlt eigentlich nur noch der Dampflokgeruch», sage ich. Lachend kontert Hartmut: «Diesen haben wir selbstverständlich auch im Angebot, Räucherkerze Dampflok-Duft!»

Make steam, not war

Mit sechs Jahren bekommt der Tüftler seine erste Diesellok, eine Märklin V60, geschenkt. Aus dem ersten Kreis, noch ganz analog, erwächst über die Jahre eine Leidenschaft. Kisten voller Kabel, Schalter, Schienen und Weichen erzählen: Hier klebt, schraubt, sägt und verklemmt einer nach Feierabend mit Herzblut. Jedoch nicht allein. Wir stehen vor einem Modul der Spur N. Noch im Rohbau. Akkuschrauber, Schraubzwinge, Säge, Pinsel, Bausätze von Häusern verraten: Acht Männer basteln derzeit unter Hochdruck.

Ende November wurde das Modul auf der Spielemesse in Stuttgart Teil eines grossen Ganzen. Modellbaugruppen aus 18 europäischen Ländern stellten dort auf 2'000 Quadratmetern ihre gefertigten Module zu einer XXL-Strecke zusammen, über die digital gesteuert ICEs, Loks und Triebwagen sausten, schnauften und rumpelten. Modellbauatmet etwas Völkerverbindendes, ist ein probates Mittel gegen Populismus, Vereinsamung und Langeweile. Hartmut hat Kontakt zu Modelbahnfreunden in der Ukraine. «Die bieten gerade Bau- und Bastelkurse für Kinder an. Sie wollen mit ihnen etwas Positives in diesen schwierigen Zeiten gestalten. Daher unterstützen wir sie mit Know-how und Material.»

Einfach mal loslegen

Aus einer Vitrine holt Hartmut ein nordamerikanisches Lokmodell: den Big Boy. Die E 140, die deutsche Standard-E-Lok, ist dagegen ein Winzling. Vor einem Güterbahnhof mit zahlreichen Waggons und Containern «Zweifeln & Staunen» frage ich: Wie findet man einen guten Einstieg in das Hobby? Die Augen des Modellbauers leuchten. «Einfach mal loslegen», entfährt es ihm spontan, während er hinter drei Kartons eine Holzplatte mit aufgeschraubten Schienen der Spuren Z, N, TT, H0 und 0 hervorzieht. «Es kommt auf die Alters- und Augenklasse an und es gilt, die Spur für sich zu finden, die einem liegt.» Lachen. Der 61-Jährige empfiehlt, sich einem Verein anzuschliessen. «Da gibt’s gute Tipps, Erfahrungen und man kann Material tauschen.» Viel Geld braucht es am Anfang nicht. Mit 120 Euro ist man analog oder mit 320 Euro digital dabei. Ergänzend fügt er an: «Schenkt eurem Kind den Bausatz für ein Haus. Nach einer halben Stunde steht dieses im Rohbau da und verlangt nur noch nach farblicher Ausgestaltung.» Hartmut zeigt mir sein Eigenheim hinter einem grünen Hügel. Bei Faller Create hat der Bastler die Möglichkeit, die eigenen vier Wände einzugeben, kann sich diese dann online per 3D-Drucker ausspucken und zuschicken lassen. So steht die eigene, beleuchtete Bleibe im Miniformat inmitten von Brücken und Lokschuppen.

«Zweifel & Staunen» auf die Schienen gebracht

«Modellbau entschleunigt das eigene Leben, hilft mir zu entspannen und abzuschalten», sagt Zeschky. Ich grinse in mich hinein. Für Hartmut und seine Freunde ist Modellbau eine Art Yoga für Fingerfertige, Beziehungs- und Entspannungsort. Und noch ein bisschen mehr. Ein grosses Signalblech an der Wand steht für cmt: Christliches Modellbahnteam e. V. Hier in der alten Fabrik wird seit über 25 Jahren neben der Leidenschaft für Loks auch die für den Glauben geteilt. Einmal im Monat treffen sich die christlichen Modellbaufreunde zwischen Alpen und Ostsee zum Online-Fachsimpeln. Einer bringt dann einen geistlichen Gedanken mit, es wird gebetet und dann wird weiter zugehört und geplaudert. «Auch mal bis nachts um halb zwei.»

Modellbahnbau verbindet Alltag, Beruf und Glauben, Schönes und Schwieriges, Lachen und Tränen. «Opa, Eisenbahn!», tönt es am Wochenende aus dem Mund der Enkel. Nicht nur Hartmut geniesst es, dann ein Stündchen aus seiner grossen unübersichtlichen, verantwortungsvollen Arbeitswelt abzutauchen, Kind zu sein. Dampf abzulassen. Weichen zu stellen. Schienen neu zu verlegen. Das Signal zur Weiterfahrt des Lebens auf Grün zu schalten, hupend und aufgetankt wieder an Fahrt aufzunehmen.

Dieser Beitrag erschien im Männermagazin MOVO 04/2023 vom SCM Bundes-Verlag.

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Autor: Rüdiger Jope
Quelle: Magazin MOVO 04/2023, SCM Bundes-Verlag

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