«Versöhnung ist der Schlüssel»
Markus Mosimann, wie ist der Konflikt in Ihrer ersten Gemeinde entstanden?
Markus Mosimann: Ich bin als 30-jähriger Chrischona-Pastor in eine zusammengewürfelte Gruppe gekommen: von charismatisch bis sehr konservativ. Mein Anliegen als harmoniebedürftiger Mensch war es, immer beide Seiten im Boot zu halten. Heute sehe ich, dass das falsch war. Ich hätte Position beziehen und sagen sollen: So machen wir das jetzt! Weil ich versucht habe, offen zu sein, hat man auch meine Glaubensposition angezweifelt. Das hat mich an den Rand gebracht: Ich hatte Depressionen und habe alles infrage gestellt: Gibt es Gott wirklich? Mir war klar: Das halte ich nicht lange durch – und wollte meinen Beruf als Pastor aufgeben. Schliesslich wurde mir bewusst: Ich muss den Menschen vergeben, die mir das Leben schwer gemacht haben. Mein Berater hat mir mal gesagt: «Ich wünsche dir ein Gnadenbad.» Das habe ich lange nicht begriffen. Ich dachte, ich muss glauben. Bis ich gemerkt habe: Gott verlangt von mir nicht, was ich nicht kann. Glaube ist auch geschenkt. Das war für mich eine tiefe, heilsame Erfahrung!
Sie haben dann die Gemeinde verlassen?
Ich konnte noch zwei Jahre bleiben und einiges aufarbeiten. 1994 habe ich gehört, dass eine Kirche in der Ostschweiz sich wahrscheinlich trennen wird. «Die sollen ja nicht auf die Idee kommen, mich zu fragen!», habe ich zu meiner Frau gesagt. Aber nach zwei Wochen hat mein Vorgesetzter mich gefragt. Und je mehr wir überlegt und gebetet haben, umso mehr wurde klar: Das ist unser Weg!
Welche Situation haben Sie in dieser Gemeinde vorgefunden?
Es waren noch 35 mehrheitlich ältere Leute in der Chrischonagemeinde in Arbon. Vorher hatte es etwa 120 erwachsene Gottesdienstbesucher und über 50 Jugendliche gegeben. Aber der grössere Teil hatte die Gemeinde verlassen, darunter der frühere Pastor, und 400 Meter weiter die Seekirche gegründet. Wir waren dadurch immer herausgefordert.
Wie schöpft man unter diesen Bedingungen Hoffnung?
Gott hat mir ein Bild gegeben: Ein Sturm ist durch den Wald gegangen, einzelne Bäume sind stehengeblieben. Dieses Bild hat mir die Hoffnung gegeben, dass etwas Neues wachsen kann. Ich bin als Friedensstifter gekommen und wollte nicht zulassen, dass man die, die weggegangen sind, als Feinde sieht. Deshalb habe ich gesagt: «Ich lasse nicht zu, dass sich jemand auf der Bühne negativ zu meinem Vorgänger äussert.» Das hat mir nicht nur Freunde gebracht. Aber in mir schlummerte der Wunsch, dass der ehemalige Pastor eines Tages wieder bei uns predigt. Dass es 20 Jahre dauern würde, hätte ich nicht gedacht.
Aber es ist passiert?
Ja, es ist passiert. Unter dem Motto «Das Neue feiern» haben wir 2014 alle eingeladen, die damals betroffen waren. 150 Personen sind gekommen – und im Festgottesdienst hat mein Vorgänger gepredigt. Ein starkes Zeichen dafür, dass die Kraft der Versöhnung stärker ist als alles Trennende.
Was war der Grund für die damalige Gemeindespaltung?
Mein Vorgänger hat viel bewegt: ein grosses Angebot für Kinder und Jugendliche, neue Lieder im Gottesdienst. Das hat viele Familien angezogen. Aber es gab auch Kritik: «Die Chrischonagemeinde ist mehr Pfingstgemeinde als die Pfingstgemeinde», hiess es. Fünf Personen haben das beim Regionalleiter kritisiert. Es gab mehrere Gespräche, aber keine Einigung. Deshalb wollte die Regionalleitung den Pastor in eine andere Gemeinde versetzen. Das wiederum führte zur Spaltung, weil der grosse Teil der Gemeinde den Kurs des Pastors mitgegangen ist. Die theologischen Fragen, an denen man den Konflikt aufgehängt hat, waren allerdings nicht das Problem, sondern die Beziehungen… eigentlich nur die zwischen vielleicht 15 Personen. Die anderen mussten sich für eine Seite entscheiden.
Was waren die ersten Versöhnungsschritte?
Nach zwei Jahren haben wir uns als Leitungen beider Gemeinden getroffen. Man wollte Klärung – und hat keine gefunden. Es war eben wieder auf der Beziehungsebene herausfordernd. Deshalb haben wir der Seekirche einen Brief geschrieben, wie wir mit dem Konflikt umgehen wollen. Als Reaktion haben sie uns geschrieben. Das waren die ersten Annäherungsversuche. Die Seekirche wurde nach zehn Jahren aufgelöst. Es hatte immer wieder Streit gegeben. Als ihr Pastor wegging, habe ich auch dort gepredigt. Das hat in meiner eigenen Gemeinde unschöne Reaktionen ausgelöst. Den Weg der Versöhnung zu gehen, war auch ein Kampf.
Wie hat sich Ihre Gemeinde entwickelt?
Ich habe gedacht, in einem Jahr wird sie wieder florieren. Wenn Gott sich an unsere kurz-, mittel- und langfristigen Ziele gehalten hätte, wäre das jetzt die grösste Kirche der Schweiz! Aber wir brauchten jeweils zwei Jahre, um das Durchschnittsalter nur um ein Jahr zu verringern. Und schon nach zwei Jahren ging uns das Geld aus. Die Gemeinde wollte, dass ich bleibe. Sie hat grosse finanzielle Opfer gebracht und entschieden: «Jetzt müssen wir vergeben.» Als ich die Gemeinde 2015 verlassen habe, war das Durchschnittsalter 35. Auch weil einige junge Familien aus der Seekirche zu uns gewechselt sind. Sie gehören heute zur Leiterschaft der Kirche.
In welche Gemeinde sind Sie 2015 gewechselt?
Ich bin erst einmal anderthalb Jahre Bus gefahren. Dann habe ich gemerkt: Ich gehöre in die Gemeinde. Jetzt bin ich einer von drei Pastoren der Mosaikkirche in Neftenbach bei Winterthur – mit einer halben Stelle. Mit 30 Prozent arbeite ich bei dem christlichen Reiseunternehmen Surprise Reisen. 1996 habe ich dort angefangen, Reisen zu leiten. Und seit zwölf Jahren leite ich ein kleines Entwicklungshilfsprogramm in Costa Rica, Licht in Lateinamerika. Eigentlich wollte ich gar nicht Pastor werden. Ich war Schreiner und wollte nur ein Jahr am Theologischen Seminar St. Chrischona studieren, um dann als Werksmissionar nach Afrika zu gehen. Auf Anraten meines Mentors habe ich dann doch die ganze Ausbildung gemacht. In meiner ersten Stelle habe ich gleich gesagt: «Ich komme nur für zwei Jahre.» Jetzt sind es 36 Jahre. Und ich bin zwar nicht Werksmissionar geworden, aber leite heute eine Werksmission.
Was ist Ihr Fazit aus den vielen Jahren «Konfliktarbeit»?
Wir wünschen uns immer, dass Kirche konfliktfrei ist. Das ist illusorisch, denn wir sind Menschen wie alle anderen. Aber hoffentlich lösen wir Konflikte anders. Der Schlüssel heisst Vergebung. Das ist nicht einfach. Wir reden gerne über Versöhnung. Es kann sein, dass Gott uns beim Wort nimmt und uns Gelegenheit gibt, das zu lernen. Auch in der Mission musste ich Konflikte schlichten. Aber das hat mich nicht mehr gewundert. Ich wusste: Wir werden einen Weg finden, wenn alle bereit sind, sich auf den Weg der Versöhnung zu machen. Damit habe ich ganz tolle Erlebnisse gemacht – das ist genial!
Dieser Beitrag erschien im Magazin LebensLauf 01/2024 vom SCM Bundes-Verlag.
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