Albrecht Beutelspacher: Der Unendlichkeit auf der Spur
Woher kommt Ihre Faszination für Mathematik?
Albrecht Beutelspacher: Ich hatte schon in der Schule nie Probleme mit der Mathematik, ich habe eher meinen Mitschülern bei den Hausaufgaben geholfen. Mathematik ist die Wissenschaft der Klarheit, das gefällt mir daran so. Es gibt ganz komplexe Probleme, die man aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und mit verschiedenen Methoden beschreibt, und irgendwann kommt da dieser Augenblick, in dem man plötzlich die Lösung sieht. Von diesem Aha-Moment geht eine grosse Faszination aus.
Haben Sie ein Lieblingsthema in der Mathematik?
Ein faszinierendes Thema, das die Mathematik in gewisser Weise beherrscht, ist die Unendlichkeit. Auch die Philosophie und die Theologie reden davon, aber die Mathematik kann sie objektiv erforschen – wenn auch vielleicht nur einen kleinen Teil davon. Wir können Aussagen über die Unendlichkeit beweisen, zum Beispiel, dass es unendlich viele Primzahlen gibt. Das ist doch erstaunlich, dass wir von der Endlichkeit begrenzte Menschen etwas über die Unendlichkeit aussagen können! Das ist in meinen Augen etwas, was uns die Mathematik sagt: Es gibt da noch mehr. Du, Mensch, kannst das ein wenig erforschen – und das allein ist bereits grossartig –, aber das Ganze kannst du niemals erfassen.
Berührt da Ihr Beruf als Mathematiker Ihre persönliche Religiosität?
Ja. Aber man muss da vorsichtig sein: Das ist kein Gottesbeweis. Der grosse Mathematiker und Astronom Johannes Kepler hat einmal gesagt: Der Kosmos ist geordnet und funktioniert nach Gesetzen, und zwar offenbar, weil Gott das Universum gemacht hat. Indem wir diese Gesetze entdecken, haben wir Menschen die Möglichkeit, den Gedanken Gottes nahe zu sein, wie es Kepler ausdrückte. Viele Mathematiker hatten ein derartiges persönliches Gottesbild.
Hat die Schönheit in der Mathematik etwas mit Spiritualität zu tun?
Ja, in gewisser Weise. Dieses Erleben, von dem ich eben gesprochen habe, geht in einer merkwürdigen und jedenfalls für mich nicht rational zu erfassenden Weise über das hinaus, was man da tut. Wenn ich zum Beispiel hier im Mathematikum ein Experiment mache, geht das nur, wenn ich dazu die richtige Idee habe. Das ist viel mehr, als nur dieses oder jenes Holzklötzchen zu verschieben. Es ist die Idee dahinter, wie es eigentlich sein sollte. Das ist sozusagen die absolute Schönheit, und die gibt es nun einmal nur in einem geistigen Erleben. Das ist nah dran an Spiritualität.
Von der unendlichen Schönheit spricht ja auch die Religion…
Ja. Wobei es früher diese Trennung gab: Wir Menschen leben in der Sphäre der Endlichkeit, und Gott ist die Unbegrenztheit. Da gab es geradezu eine Sperre, sich überhaupt den Fragen der Unendlichkeit zu nähern.
Ihre Mutter hat im Gottesdienst gerne die Nummern der Lieder aus dem Kirchengesangbuch mathematisch analysiert.
Meine Mutter war eine regelmässige Gottesdienstbesucherin, und sie hatte auch eine mathematische Begabung. Sie hat die angeschlagenen Nummern der Lieder in ihre Primzahlen zerlegt. Meine Eltern und meine Grosseltern haben uns sehr dazu ermutigt, die Kirche zu besuchen. Meine Grosseltern waren sehr pietistisch geprägt. Aber sie haben uns immer eine grosse Freiheit gelassen.
Wie sehen Ihre Berührungspunkte zur Theologie aus?
Ich habe in Tübingen studiert, und da kam man gar nicht drumherum, auch einmal Theologie-Vorlesungen zu besuchen. Da war unter anderem Eberhard Jüngel. Es war ein grosser Genuss, ihm zuzuhören. Er hat Textstellen so toll analysiert, dass es fast genau solche schönen Erkenntnis-Momente gab wie in der Mathematik. Mir ist es – auch in der kirchlichen Arbeit – immer wichtig, sich bewusst zu werden: Ich bin nie am Ziel, muss mich immer hinterfragen.
Logik und Theologie schliessen sich also nicht aus. Schliessen sich Logik und Glaube aus?
Nein. Wenn Gott uns Menschen geschaffen hat, dann hat er uns mit einem Verstand erschaffen. Glaube heisst nicht, den Verstand auszuschalten, sondern im Gegenteil. Bei mir jedenfalls ist es so, dass mich das Lesen und Nachdenken darüber weiterbringt.
Lesen Sie in der Bibel?
Ja. Als Kind und Jugendlicher habe ich gerne das Alte Testament gelesen, später eher das Neue Testament, die Briefe zum Beispiel. Wenn heute Texte etwa für den Gottesdienst anstehen, lese ich auch gerne Sekundärliteratur zu diesen Bibelstellen.
Haben Sie einen Lieblingsbibelvers?
Von Jüngel habe ich gelernt: Beim ersten Gebot, in dem es heisst: «Ich bin der Herr, dein Gott», ist das Subjekt das Wichtigste. Gott ist der Herr, nicht ich bin da wichtig.
Ein Teilgebiet der Mathematik ist die Kryptologie, die sich mit Verschlüsselung befasst. Wie sehen Sie die Versuche, aus der Bibel durch kryptologische Verfahren einen Erkenntnisgewinn zu ziehen?
Das halte ich für Humbug. Der schwäbische Pfarrer Philipp Matthäus Hahn hat sehr gute Rechenmaschinen und Uhren konstruiert. Eine Uhr von ihm sollte den Weltuntergang voraussagen. Sie war so konstruiert, dass sie zum vorhergesagten Zeitpunkt stehen bleiben sollte. Das finde ich lustig, offenbar hat Gott, wenn es so weit ist, zu viel zu tun, um auch noch diese Uhr anzuhalten. Ich bin da sehr skeptisch. Die theologische Analyse der Bibel geht anders.
Wie stehen Sie zum Mathematiker und Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz, der ein sehr gläubiger Mensch war?
Leibniz, einer der grössten Mathematiker, hat unfassbar viele Eingaben in der Mathematik gemacht, und er hat die erste wirklich funktionierende Rechenmaschine konstruiert. Er war aber auch auf gewisse Weise naiv. Er erkannte als Erster das Potenzial des Binärsystems, also das Rechnen nur mit Nullen und Einsen, und er meinte: Wenn man dem Kaiser von China nur das Binärsystem erklären würde, würde sich ganz China sofort zum Christentum bekehren.
Auch in Religionen haben Zahlen eine gewisse Bedeutung.
Jede Zahl, etwa bis zur 20, hat ihren eigenen Charakter. Die 6 ist zum Beispiel gut teilbar, und wenn ich ihre Teile 1, 2 und 3 zusammenzähle, kommt 6 heraus – sie ist also eine vollkommene Zahl. Ein besonderes Rätsel ist die Zahl 7. Sie ist eine Primzahl. Sie kommt erstaunlicherweise nicht in der Natur vor, aber in unserer geistigen Welt spielt sie eine grosse Rolle. Nicht nur in den Märchen kommt sie immer wieder vor, es gibt die sieben Hügel Roms, die sieben Weisen und so weiter. Eine der grössten Erfindungen der Menschheit, die Sieben-Tage-Woche, stammt aus der Bibel. Es gibt die Theorie, dass jede Zahl in der Bibel eine Bedeutung hat, keine ist zufällig. Das ist aber nicht zu verwechseln mit angeblichen kryptologischen Geheimnissen.
Dieser Artikel erschien zuerst auf PRO Medienmagazin
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