Warum wir Orte zum Weinen brauchen
Es tut mir weh, dass unter den heutigen Christen so wenig geweint wird. Nein, ich denke hier nicht an die Tränen, die die Menschen bei sich zu Hause vergiessen. Sondern an die Stunden, in denen Gottes heilige Gegenwart eine Versammlung von Christen so durchweht, dass sie die Tränen nicht mehr zurückhalten können. Für mich ist eine Kirche, in der die Augen immer trocken bleiben, eine Kirche, die geistlich verarmt ist.
Unsere Tränen sind ein Wasserlauf, der aus unserem Innersten hervorquillt als reinigender, heilender und Härte fortspülender Bach. Sie fliessen unsere Wangen hinab – aber nicht alle; ein Teil sammelt sich im lacus lacrimalis, im «Tränensee» im inneren Augenwinkel. Lacus lacrimalis – ist das nicht ein wunderschöner Name? Ein See, dessen glänzende Oberfläche eine Spiegelung der Tiefen der Seele ist.
Ruhe für Körper und Seele
Das Weinen gehört zu dem sogenannten parasympathischen Teil unseres Nervensystems – dem Teil, der dafür sorgt, dass das Herz sich beruhigt, der Blutdruck sinkt, unser Körper die nötigen Ruhepausen bekommt und Heilungsprozesse schneller verlaufen. Manche Mediziner gehen davon aus, dass unsere Tränenflüssigkeit sowohl Endorphine enthält (die Schmerzen lindern und allgemein dafür sorgen, dass wir uns wohler fühlen) als auch Stresshormone. Es ist gerade so, als ob das Weinen, diese Flutung unserer Tränengänge, ein Doppeltes leistet: Unser Körper bekommt Beruhigung und Erleichterung, während gleichzeitig Stress und Unruhe fortgespült werden.
Tränen sind eine körperliche Manifestation zweier so unterschiedlicher Gefühle wie Freude und Kummer. In den beiden Extremen des Lebens – wenn es am schönsten ist und wenn es am schwersten ist – reicht Gott uns die Tränen als Gabe und Gnade. Mit ein und demselben Mittel drücken wir Schmerz, Kummer, Trauer und Glück aus. Die stummen Tränen nach einer erleichternden Nachricht sind Dankbarkeit in flüssiger Form. Vielleicht ist deswegen das Weinen so wichtig: Es umgreift die Widersprüchlichkeiten des Lebens und es verbindet uns mit den Tiefen unserer Seele.
Die ganze Bibel ist durchzogen vom Fluss der Tränen – vielleicht nicht als reissender Strom, aber doch als Rinnsal oder Bach. Der halbe Psalter ist tränengetränkt, Paulus erinnert sich an die Abschiedstränen von Timotheus, und zum Schluss scheint der Tränenfluss bis in den Himmel zu gehen, wo Gott alle Tränen abwischen wird.
Man weint nicht überall
Bis es so weit ist, müssen wir, um dem Geheimnis des Weinens näherzukommen, vielleicht zurück in unsere Kindheit gehen. Als Kind war ich ein Schlafwandler, und das nicht nur in meinem Zimmer oder zu Hause, sondern manchmal verliess ich das Haus. Eines Winters, als in Nordschweden der Schnee so hoch lag, dass man die Autos auf unserer Strasse nicht mehr sah hinter den Schneemauern, ging ich mitten in der Nacht nach draussen. Es waren minus 30 Grad. Meine Mutter wurde wach, als die Haustür zuschlug, aber als sie mich rief, war ich schon hinter den Schneewehen verschwunden. Barfuss und im Schlafanzug. Bevor Mama in ihren Mantel geschlüpft war, wachte ich ein paar Häuser weiter auf, total verfroren und verschreckt. Wie der Blitz rannte ich nach Hause, meiner Mutter, die in der Haustür stand, in die Arme. Ich weiss noch, dass sie kein Wort sagte und ich auch nicht. Sie drückte mich an sich und weinte stumm. Ich muss heute noch manchmal an diese Szene denken und wie ich selber mit dem Weinen wartete, bis ich wieder zu Hause war. Man weint nicht überall. Man muss sich geborgen und in Sicherheit fühlen, um die Tränen kommen zu lassen.
Orte der Geborgenheit
Es ist meine Überzeugung, dass es uns möglich ist, einander solche Orte der Geborgenheit zu schaffen – Orte, wo wir uns so sicher fühlen, dass wir unsere Gesichter nicht verhüllen müssen, wenn die Tränen kommen. Und es ist mein grosser Traum, dass unsere Kirchen und Gemeinden der Zufluchtsort sind, wo wir uns nicht zusammenreissen müssen, sondern die Tränen fliessen lassen können – ein Ort, wo wir nicht versuchen, die Tränen zu verhindern, sondern wo wir ihnen Bahn geben. Ein Ort, wo es nicht heisst: «Nun weine doch nicht!», sondern (und um einiges tröstlicher): «Hier darfst du weinen.»
Dies ist übrigens einer der Gründe dafür, dass ich immer wieder im Glauben, im Gebet und in meinen Gedanken zu Jesus komme. Er ist nämlich der einzige Gott, der weint. Eine der ergreifendsten und vielleicht wichtigsten Jesus-Szenen in der Bibel ist die, wo er Jerusalem vor sich sieht und anfängt, über die Stadt zu weinen. Sein Weinen ist auch unser Weinen, und es zieht mich zu dem Gott, der weint, wenn er über die Berge zu uns kommt, hinein in unser Leben mit all seinem Zerbruch. Auf Götter, deren Augen immer trocken bleiben, kann ich verzichten.
In der Ecke über unserer Küchenbank hängt ein eingerahmter Text aus einem Song der Musikerin Julia Ivansson: «Wenn du weinen willst, dann mach es – mach es hier.» Ich frage mich, ob das nicht die schönste Ecke in unserem ganzen Haus ist.
Zum Autor:
Tomas Sjödin lebt in Schweden und ist dort renommierter Autor und Kolumnist. Seine Bücher sind fast alle auch auf Deutsch im SCM R.Brockhaus Verlag erschienen.
Zum Thema:
Theologie der Tränen: Warum weinen wir eigentlich nicht in der Kirche?
Tränen in der Bibel: «Jesus weinte; seine Anhänger tun das nicht»