Jahresringe statt Reset

Jahresringe in einem Baumstamm
2024 hat begonnen. Für viele mit dem diffusen Wunsch, etwas müsste sich ändern. Sie sind unzufrieden mit ihrem Gewicht, ihrem Glauben, mit sich selbst. Am liebsten würden sie den «Reset»-Button drücken und noch einmal neu starten. Warum eigentlich?

Alle Jahre wieder wächst bei vielen das Bedürfnis, noch einmal von vorne anzufangen, Übergewicht zur Seite legen zu können, alte Gewohnheiten zu lassen und neue, gesündere zu haben. Genau: Im Kopf geht es darum, sie bereits zu haben und sie nicht erst Schritt für Schritt zu entwickeln. Dazu wäre ein Reset-Knopf sinnvoll, der das Leben auf null setzen kann. Wer schon mehr als 20 Neujahre erlebt hat, weiss zwar, dass das Illusion ist, trotzdem ist die Sehnsucht vorhanden und treibt Neukunden in die Arme von Fitnessstudios (laut Deutschem Sportstudio-Verband melden sich 30 Prozent aller Neukunden im Januar an).

Ein Hauptgrund dafür, dass dieser absolute Neustart nie klappt, liegt darin, dass Sie und ich ihn gar nicht wollen! Wir wollen zwar abgenommen haben, aber nicht weniger essen. Wir wollen Klavier spielen können, aber nicht üben. Wir wollen anders sein, aber nicht anders werden… Was sich ernüchternd anhört, ist in Wirklichkeit auch etwas Wunderschönes: eine Hommage an unsere Geschichte, die nicht nur ein lästiges Anhängsel ist, das wir hinter uns lassen sollten, sondern die uns zu dem macht, wer wir heute sind. Ist Veränderung so überhaupt möglich?

Dinge ändern sich sowieso

Natürlich ist Veränderung möglich und nötig. In sehr vielen Bereichen findet sie allerdings nicht aktiv aus eigenem Antrieb heraus statt, sondern als Reaktion auf geänderte Umstände. Viele planen also nicht unbedingt, geduldiger zu werden, aber da sie Eltern geworden sind, bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als es zu lernen. Andere hatten kein Seminar zum Steigern der Flexibilität besucht und auch nicht dafür gebetet, aber dann wurden sie befördert und mussten umziehen, einen neuen Freundeskreis erschliessen, eine neue Gemeinde finden und sich in ein neues Berufsfeld einarbeiten. Wieder andere wurden arbeitslos oder krank und plötzlich war alles anders.

Wenn die Veränderung positiv war und man sie nach einer Weile bewältigt hat, dann stellen manche sie als folgerichtig dar und unterstreichen vielleicht noch: «Ich hab’s geschafft – und du könntest das auch.» Die Psychologie nennt diese Selbstüberschätzung einen fundamentalen Attributionsfehler. Das bedeutet: Für Schwächen suchen wir Entschuldigungen, Erfolge wiederum schreiben wir gern uns selbst und der eigenen Leistung zu. Viele der Dinge, die sich im Laufe dieses Jahres ändern werden, sind nicht geplant. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Veränderungen oder unsere Reaktionen darauf schlecht wären. Sie kommen nur bei den Neujahrsvorsätzen nicht vor.

Man kann nicht aus seiner Haut

Anderes lässt sich durchaus ändern. Immer wieder fassen Menschen den Entschluss, nicht mehr zu rauchen, und schaffen es. Jähzornige können ihre Wutanfälle in den Griff bekommen und auch der Klassiker «Ernährungsumstellung» ist möglich. Je enger der jeweilige Bereich mit der eigenen Persönlichkeit verknüpft ist, desto schwieriger ist es, sich hier zu ändern. Wer von Grund auf sachorientiert ist, wird ein Bad in der Menschenmenge nie so geniessen wie ein beziehungsorientierter Mensch. Irgendwo kommen sinnvoll mögliche Veränderungen an ihre Grenzen, wer sich weiter ändern wollte, würde damit die eigene Persönlichkeit schädigen. Er oder sie wäre dann nicht mehr dieselbe Person.

Aber heisst es nicht in der Bibel: «Gehört also jemand zu Christus, dann ist er ein neuer Mensch. Was vorher war, ist vergangen, etwas völlig Neues hat begonnen»? Stimmt, aber Paulus hat von niemandem erwartet, die eigene Persönlichkeit aufzugeben, die Gott in ihn hineingelegt hat. Selbstoptimierung ist momentan ein starker gesellschaftlicher Trend, doch wo sie zur Selbstaufgabe führt, geht sie zu weit. Nicht alle müssen erfolgreich Ausdauersport betreiben, Theologie studieren oder so singen, dass anderen nur noch der Mund offen stehen bleibt. Die meisten können es gar nicht – und das ist völlig in Ordnung.

Versöhnt wachsen

Änderungen finden also manches Mal von selbst statt, ob Menschen das nun wollen oder nicht. Manche sind das Ergebnis eines längeren Prozesses und oft auch grosser Anstrengung. Doch Veränderungen machen niemanden zu einem anderen Menschen – das sollen sie nicht. Von daher klingt ein Neustart bei null manchmal attraktiv, doch er ignoriert, dass man bereits eine Wegstrecke zurückgelegt hat. Und diese Wegstrecke bestand nicht nur aus Schwierigkeiten und Misserfolgen, sondern sie war das, was man gemeinhin als «Leben» bezeichnet.

Vielleicht hilft ein Bild, sich mit dem zu versöhnen, was sich im neuen Jahr ändert oder was bleibt: Ein Baum schreibt seine Vergangenheit in die Jahresringe. Da gibt es knappe und kalte Zeiten genauso wie besondere Highlights und fruchtbare Jahre. Gemeinsam sind sie nicht nur ein Blick in die Vergangenheit – sie machen den Baum an sich aus, geben ihm Substanz und Stabilität. Wie jedes Bild hinkt auch dieses: Wir sind eben Menschen und keine Bäume. Aber an vielen Stellen sprechen die Autoren der Bibel von dem Ziel, reif zu werden. Und sie meinen diese Art des Wachsens – eine Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit, ein Sammeln von Erfahrung, ein Ändern der Haltung, ein Werden zu dem Menschen, den sich Gott gedacht hat. Auf Knopfdruck funktioniert es nicht, aber das neue Jahr kann ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg dahin sein.

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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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