Wann ist Gemeinschaft unmöglich?
Niemand würde allen Ernstes zugeben, als Christ andere Christen abzulehnen. Man drückt sich stattdessen diplomatischer aus: «Er ist ein lieber Bruder im Herrn, aber…» Unter genau solchen Vorzeichen sagt zum Beispiel ein christlicher Konferenzredner die Teilnahme an einem Kongress ab, weil andere neben ihm auf der Bühne stehen sollen, deren Überzeugungen er nicht teilt. Oder eine Sprecherin lässt sich darauf ein, wird aber anschliessend von wohlmeinenden Christen damit konfrontiert, wie sie sich nur «mit solchen Leuten» eins machen kann. Für die US-Plattform «Christianity Today» ging Kate Shellnutt dieser Frage nach. Sie interviewte sechs bekannte US-Rednerinnen und -Redner dazu. Doch das Thema ist auch diesseits des Atlantiks relevant. Auch hier ist das «Aber» anderen gegenüber oft stärker als die Liebe zu ihnen oder wenigstens ein sachlicher Umgang mit ihnen.
Vorsicht ist gefragt
«Heutzutage müssen sich christliche Redner nicht nur genau überlegen, was sie sagen, sondern auch, mit wem sie es tun», stellt Shellnutt gleich zu Beginn fest. Sie zeigt damit, dass viele Christen von dem gleichen gesellschaftlichen Phänomen gesteuert werden wie Politikerinnen und Politiker, die auf ihre Umfrageergebnisse schauen, oder wie Menschen, die erst einmal schauen, wer etwas sagt, und erst danach, was der Inhalt ist, denn von manchen Personen erwarten sie keine Äusserungen, über die es sich lohnen würde zu reden. Sozialwissenschaftler sprechen hier von Blasen («Bubbles»), in denen sich Menschen bewegen. Je stärker der Trend dazu ist, desto grösser ist die Angst, diesen sicheren Bereich zu verlassen – und sei es dadurch, dass man neben jemandem zu Wort kommt, der eine andere Meinung vertritt als man selbst.
Unterschiedliche Ansätze
Die wenigsten Gläubigen sind gefragte Konferenzredner wie Shellnutts Gesprächstpartner, trotzdem enthalten ihre Antworten Gedanken, die sich leicht auf jeden Umgang als Christen miteinander übertragen lassen. Einige Ideen sind:
- «Ich nehme gerne an christlichen Konferenzen und Veranstaltungen teil, bei denen auch Menschen anwesend sind, mit denen ich nicht übereinstimme, aber… Ich habe gelernt, dass ich den Unterschied zwischen Gehörtwerden und Benutztwerden genau kennen muss.» (Karen Swallow Prior, Schriftstellerin und Professorin)
- «Es gibt Leute, die so von der biblischen Rechtgläubigkeit abweichen, dass ich ihre Position nicht einmal dadurch bestätigen möchte, dass ich in derselben Reihe sitze.» (Jackie Hill Perry, Bibellehrerin und Autorin)
- «Sind meine Differenzen mit anderen Rednern kritisch oder unkritisch für den Glauben? Wenn es kritische Differenzen gibt, dann würde ich nur dann auf einer Bühne stehen, wenn ich meine Ansichten frei und klar artikulieren kann.» (Sean McDowell, Apologet und Professor)
Praxistipps
Offensichtlich gibt es viele gute Gründe für ein vorsichtigeres bzw. offeneres Verhalten andersdenkender Christen gegenüber. Den einen Bibelvers, der diese Frage endgültig und für jede Situation klärt, wird man nicht finden. Doch am Verhalten von Jesus selbst lassen sich wichtige Praxistipps für heute ablesen:
- Jesus hat keine «politischen» Entscheidungen getroffen. Wir brauchen nicht danach zu sehen, ob es opportun ist, den Kontakt mit anderen zu suchen. Wenn wir permanent fragen, ob unser nächstes Umfeld mit unseren Gesprächspartnern einverstanden ist, werden wir kaum noch echte Gespräche haben.
- Jesus hat nicht mit jedem geredet. Wir brauchen uns auf der anderen Seite auch nicht von jedem und für alles instrumentalisieren zu lassen. Wenn Menschen Jesus vor ihren Karren spannen wollten, dann schwieg er (Matthäus, Kapitel 27, Vers 12-14).
- Jesus hat weniger Grenzen gezogen als seine Jünger. Wir können viel entspannter mit unterschiedlichen Meinungen umgehen, wenn wir uns nicht an den scheinbaren Grenzen anderer Christen orientieren, sondern an Jesus selbst. Der liess Nebensächlichkeiten unwichtig bleiben und meinte nur: «Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns!» (Lukas, Kapitel 9, Vers 49-50)
Ähnliches gilt übrigens auch, wenn Leute aus unserem Umfeld sich mit andersdenkenden und -glaubenden Christen einlassen. In der Regel ist das Schlimmste, was dabei geschieht, kein dramatischer Abfall vom Glauben, sondern das Kennenlernen anderer Gedanken. Eli Pariser war der erste, der von einer «Filterblase» des Denkens sprach. Er hält fest: «Eine Welt, die aus dem Bekannten konstruiert ist, ist eine Welt, in der es nichts mehr zu lernen gibt … [weil] es eine unsichtbare Autopropaganda gibt, die uns mit unseren eigenen Ideen indoktriniert.» Pariser bezieht dies hauptsächlich auf Online-Medien, doch die Mechanismen sind dieselben: Polarisierung und Quasi-Feindschaft trotz weitgehender Übereinstimmung. «Liebe deine Freunde», würde Jesus sagen.
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