Verheimlicht die Kirche Evangelien?

Analyse der heiligen Schrift
Immer wieder geistert es durch die Medien, dass die vier neutestamentlichen Evangelien gar nicht alle wären. Da gäbe es noch viel mehr. Und die Kirche würde sie verschweigen, weil so brisante Informationen darinstünden.

Matthäus, Markus, Lukas und Johannes sassen entspannt in der Pizzeria an der Ecke. Das Essen war gut gewesen, der Wein und die Apfelschorle erfrischend und sie hatten endlich die Inhalte aufgeteilt, über die sie schreiben wollten. «Wenn du allein das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat erzählst, Markus, dann schreibe aber nur ich von den beiden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus», hatte Lukas gerade unterstrichen, als Matthäus sie streng ansah: «Wir haben noch gar nicht beschlossen, wie wir verhindern, dass unsere Kollegen genauso gelesen werden wie wir. Was meint ihr dazu?»

Die vier Evangelien

Es mag nett sein, sich so ein Szenario auszumalen, allerdings hat es definitiv nie stattgefunden. Die Autoren der vier Evangelien schrieben diese zu unterschiedlichen Zeiten an verschiedenen Orten für jeweils andere Zielgruppen. Sicher kannten sie teilweise die Inhalte ihrer Mit-Evangelisten, doch sie wählten selbst aus, was sie erzählen wollten. Während bei manchen anderen Texten lange diskutiert und überlegt wurde, ob sie zum sogenannten Kanon des Neuen Testaments dazugehören sollten – zum Beispiel beim 2. Petrusbrief und beim schliesslich verworfenen «Hirten des Hermas» –, wurden die vier Evangelien, so wie sie uns heute vorliegen, nie ernsthaft infrage gestellt.

Warum das so ist, wird deutlich, wenn man ihre «Mitbewerber» anschaut, denn es existieren über 40 weitere «Evangelien». Ein Hauptgrund ist die relative zeitliche Nähe der vier Evangelien zu den darin beschriebenen Ereignissen. Jesus wurde wahrscheinlich zwischen 30 und 33 nach Christus gekreuzigt und die Evangelien mit mindestens 30 bis 40 Jahren Abstand aufgeschrieben. Viele Briefe waren da bereits verfasst, aber noch lebten so viele Augenzeugen, dass es sinnvoll war, jetzt ihr Wissen für die nächste Generation der Gemeinde Gottes aufzuschreiben, die die Begebenheiten nicht selbst erlebt hatten. Diese zeitliche, persönliche und inhaltliche Nähe der vier Evangelien spielte für die frühe Kirche eine wichtige Rolle – und sie überzeugte die Menschen zu einer Zeit, als das Christentum noch nicht Staatsreligion war.

Das Interesse an den anderen Evangelien

Andere Evangelien erreichten erst in jüngerer Zeit wieder Aufmerksamkeit. Elaine Pagel behauptete, sie unterschieden sich kaum von den etablierten («The Gnostic Gospels», 1979). «Der Heilige Gral und seine Erben» ging 1982 in die andere Richtung. Populärwissenschaftlich verkündeten seine Autoren, dass Maria Magdalena und Jesus ein Paar gewesen wären und ihre Nachkommenschaft durch die Tempelritter bis heute gegen den Widerstand der Kirche beschützt würden. Dan Brown nahm dieses Thema in seinem Erfolgsroman «Sakrileg/The Da Vinci Code» wieder auf. Seitdem ist ein antiker Text wie das Philippusevangelium Bestandteil der Berichterstattung. Meist sind es die immer gleichen Versbestandteile, die zitiert werden und dabei als «sensationelle Neuentdeckung» gefeiert werden, die alles bisher Bekannte auf den Kopf stellen würden.

Simon Gathercole von der Universität Cambridge untersuchte die antiken Texte auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Jahrzehntelang forschte er in diesem Bereich und veröffentlichte mehrere umfangreiche Bücher dazu. Sein Ausgangspunkt ist laut Richard Ostling die Aussage des Apostels Paulus in 1. Korinther, Kapitel 15, Vers 3-4: «Denn ich habe euch zuallererst das überliefert, was ich auch empfangen habe, nämlich dass Christus für unsere Sünden gestorben ist, nach den Schriften, und dass er begraben worden ist und dass er auferstanden ist am dritten Tag, nach den Schriften.» Hiermit unterstreicht er den frühchristlichen und seinen eigenen Massstab, den er an die Evangelien anlegt:

  1. Sie unterstreichen die Identität von Jesus als Israels Messias,
     
  2. sie betonen die rettende Bedeutung seines Todes,
     
  3. sie bekräftigen seine tatsächliche Auferstehung und
     
  4. sie finden heraus, dass all dies die Voraussagen der jüdischen Bibel erfüllt.

Was sagen denn die anderen Evangelien?

Die fünf bekanntesten «apokryphen» Evangelien stammen wohl aus dem 3. und 4. Jahrhundert. Die meisten von ihnen wurden um 1945 in koptischer Übersetzung in Ägypten wiederentdeckt. Dies sind:

Das Thomasevangelium

Es ist der bekannteste Text und besteht aus 114 Logien, unzusammenhängenden Sprüchen, von denen einige Aussagen von Jesus aufnehmen, wie sie auch in den vier Evangelien vorkommen. Zentrale Gedanken wie Kreuzigung, Erlösung oder Auferstehung kommen nicht vor. Dagegen seltsame Aussprüche wie der Schluss des Evangeliums: «Denn jede Frau, die sich männlich macht, wird in das Königreich des Himmels eingehen» (der gesamte Text ist hier zu finden).

Das Marcion-Evangelium

Es soll vom Kaufmann und Theologen Marcion verfasst worden sein, der die jüdische Bibel ablehnte und von zwei Göttern ausging, einem guten und einem bösen. Sein Evangelium soll Teile des Lukasevangeliums beinhaltet haben und einige Paulusbriefe. Für einige wird es damit zur Quelle für den Evangelisten Lukas. Die Hauptschwierigkeit: Alles, was man über Marcion und sein Evangelium weiss, rührt aus Zitaten und Einzeldarstellungen seiner Gegner her, die ihn verurteilten. Damit eignet sich das Evangelium hervorragend für sensationelle Verschwörungsthesen, aber eine echte historische Grundlage ist kaum feststellbar.

Das Petrusevangelium

Es ist in Ich-Form aus der Perspektive des Jüngers Petrus geschrieben und beschreibt nur die Kreuzigung von Jesus, der allerdings nie beim Namen genannt wird. Ob dieser Mensch der Messias ist, bleibt eher offen, klar ist nur, dass er nicht stirbt, sondern direkt in den Himmel aufgenommen wird. Der Kirchenvater Eusebius hielt es zunächst für «nicht schädlich», lehnte es aber später ab, weil es alles Leibliche schlechtmache. (Hier sind Bruchstücke davon zu finden.)

Das Evangelium der Wahrheit

Es ist eigentlich eine Predigt und kein Evangelium, in der Jesus zwar irgendwie eine rettende Funktion hat, aber von der jüdischen Tradition mit ihrer Messiaserwartung abgekoppelt wird. Es bleibt unklar, ob er tatsächlich starb, denn laut diesem Text ist Materie an sich nicht real. Real war allerdings, dass Jesus von einem zornigen Wesen am Kreuz gequält wurde. (Online ist der Text hier zu finden.)

Das Judas-Evangelium

Es wurde erst in den 1970er Jahren entdeckt und erregte 2006 bei seiner Veröffentlichung grosses Aufsehen. Danach ist Judas der einzige Jünger, der Jesus wirklich versteht. Diese und andere Aussagen stellen die übrigen Evangeliendarstellungen auf den Kopf. So ist «Christus» hier ein jüdischer Dämon und eine Auferstehung gibt es nicht. Die meisten Ausleger halten den Text für eine kainitische «Gegenbibel», die eher etwas über die Aufnahme des Evangeliums damals aussagt als über Jesus und sein Leben. (Der Text ist hier nachzulesen.)

Nicht geheim, nur verdreht

Schon bei ihrer Entstehung spielten einige der zusätzlichen Evangelien damit, Verborgenes ans Licht zu bringen. «Dies sind die geheimen Worte, die Jesus, der Lebendige, sprach», beginnt das Thomasevangelium. Im Gegensatz zu den vier Evangelien der Bibel richten sie sich an eine elitäre Klasse der Erleuchteten, lehnen die restliche Bibel als jüdische Tradition ab und zeichnen einen sehr vergeistigten und leibfeindlichen Jesus. Diese Texte als die verborgene Wahrheit darzustellen, die die Kirche über Jahrhunderte geheim halten wollte, weil sie brisante Informationen über den wahren Jesus enthalten würde, kann nur funktionieren, wenn man sich nicht mit ihnen auseinandersetzt. Längst stehen sie allen Interessierten zur Verfügung, aber zitiert werden nur einzelne Aussagen wie diese hier aus dem Philippusevangelium: «Und die Gefährtin von Christus ist Maria Magdalena. Der Herr liebte sie mehr als alle Jünger und küsste sie oftmals auf ihren Mund.» (Spruch 55) Das lässt sich natürlich wunderbar zitieren, aber wer dieses und die anderen Sonderevangelien ganz durchliest, wird nicht viel Aufregendes finden, nur Verdrehtes. Es hat gute Gründe, dass in unserem Neuen Testament vier Evangelien sind und nicht 40.

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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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