Eine alte Idee neu gedacht
«Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von grosser Güte.» So singt König David in Psalm 103, Vers 8 von seinem Gott. Es ist eine typische Aussage für die Bibel. Und es ist eine typische Aussage über Barmherzigkeit, denn die meisten Begriffe in diesem Vers kommen in unserer Alltagssprache gar nicht mehr vor. Wer nicht christlich sozialisiert ist, für den mögen sie völlig antiquiert klingen. Doch ist Barmherzigkeit damit ein veraltetes Konzept? Auf keinen Fall! Die verschiedenen hebräischen und griechischen Wörter, die mit unserem Begriff Barmherzigkeit übersetzt werden können, stehen im Gegenteil für Haltungen und Handlungen, die wir auch heute noch dringend brauchen.
Herzlichkeit auf Augenhöhe
Der bekannteste Barmherzige ist zweifellos der barmherzige Samariter im Neuen Testament. Direkt danach kommt bereits ein sehr sympathischer und gleichzeitig etwas problematischer Heiliger: Sankt Martin. Die Legende weiss, dass der römische Soldat Martin von Tours einem nackten Bettler im Winter die Hälfte seines Mantels vom Pferd heruntergab. Zweifellos ein Akt der Barmherzigkeit, doch mit einer schwierigen Schlagseite, denn diese Hilfe kommt quasi «von oben herab». Und so wird Barmherzigkeit oft gesehen und praktiziert: aus überlegener Haltung, ohne nachzufragen, im Bewusstsein: «Ich weiss, was gut für dich ist».
Jesus selbst hat Barmherzigkeit völlig anders gelebt – auf Augenhöhe. Nachdem er Matthäus berufen hat, ihm zu nachzufolgen, trifft er sich mit ihm und seinen Zöllnerkollegen zum Essen, Reden und Feiern. Die Pharisäer kritisieren ihn hierfür, doch Jesus stellt klar: «Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das heisst: 'Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer'» (Matthäus, Kapitel 9, Vers 12-13).
Diese Sicht unterstreicht auch Kardinal Kasper. Er schrieb ein Buch über Barmherzigkeit, weil er das Thema in der Kirche unterrepräsentiert fand. Als er in einem ZEIT-Interview gefragt wurde, warum wir heute bei Barmherzigkeit vor allem an das Verteilen von Almosen denken, antwortete er: «Weil das am einfachsten ist. Geld in den Klingelbeutel hineinzutun ist besser, als nichts zu tun, aber die Barmherzigkeit schaut dem anderen auch ins Auge.»
Dankbarkeit mit Gedächtnis
Ein weiterer Aspekt ist die Erinnerung an selbst erfahrene Barmherzigkeit. Deren Kraft wird sehr deutlich am Anfang des Buches «Die Elenden» von Victor Hugo (bzw. im Musical «Les Misérables»). Der Held der Geschichte, Jean Valjean, wird nach 19 Jahren Zwangsarbeit aus der Haft entlassen und ist frei. Doch eigentlich ist sein Weg vorgezeichnet und es ist klar, dass er bald wieder eingesperrt wird. Tatsächlich bestiehlt er Bischof Myriel, bei dem er übernachtet. Die Polizei kontrolliert Valjean, findet das Tafelsilber und bringt ihn zum Bischof zurück. Doch der behauptet, dass er ihm seine letzten Wertgegenstände tatsächlich geschenkt hat und gibt ihm noch seine silbernen Kerzenleuchter dazu. Zum Abschied erklärt er ihm, dass er ihn damit dem Bösen abgekauft habe, von jetzt an solle er Gutes tun. Und genau das tut Jean Valjean.
Es ist mehr als ein moralischer Appell, wenn Jesus in der Bergpredigt sagt: «Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist» (Lukas, Kapitel 6, Vers 36). Der bekannte Prediger Charles Haddon Spurgeon fasste es folgendermassen zusammen: «Nachfolger Jesu müssen Menschen der Barmherzigkeit sein, denn sie haben Barmherzigkeit gefunden und Barmherzigkeit hat sie gefunden.»
Geborgen wie bei Mama
Auch Geborgenheit gehört zur Barmherzigkeit. «Kann eine Mutter ihren Säugling vergessen? Bringt sie es übers Herz, das Neugeborene seinem Schicksal zu überlassen? Und selbst wenn sie es vergessen würde – ich vergesse dich niemals!» (Jesaja, Kapitel 49, Vers 15). Es ist kein Zufall, dass Jesaja Gottes Barmherzigkeit hier mit Mutterliebe vergleicht, denn das Wort, das er verwendet, bedeutet gleichzeitig «Mutterleib». Wie ein Baby während der Schwangerschaft maximal geschützt ist und sich gleichzeitig geborgen fühlt, so bietet Barmherzigkeit auch diese gefühlte und reale Geborgenheit. Martin Luther beschrieb dies so: «Die Barmherzigkeit Gottes ist wie der Himmel, der stets über uns fest bleibt. Unter diesem Dach sind wir sicher, wo auch immer wir sind.»
Betroffen bis ins Innerste
Gefühl hat im Christsein natürlich seinen Platz, doch oft wird es als Eisenbahnwagen beschrieben, der den Fakten und dem Glauben hinterherläuft. Es kann da sein, muss aber nicht… In Bezug auf Barmherzigkeit stimmt das allerdings nicht. Hier hat Betroffenheit einen grossen Stellenwert. Besonders deutlich wird dies, wenn man Barmherzigkeit mit organisierter öffentlicher Hilfe vergleicht. Bei Sozialhilfeempfängern oder Geflohenen steht schnell die Frage der Zuständigkeit im Raum: Welcher Ansprechpartner ist der richtige? Steht dem Antragsteller überhaupt Hilfe zu? Ist seine Situation vielleicht selbst verschuldet? Klar: Auf einem Amt müssen solche Fragen geklärt werden, aber mit Barmherzigkeit hat das wenig zu tun. Die fragt nämlich nicht nach Erklärungen, sondern leidet mit. So wie Jesus, als er am Dorf Nain vorbeigeht und auf einen Trauerzug trifft, wo eine Witwe ihren einzigen Sohn zu Grabe trägt. «Als Jesus, der Herr, die Frau sah, war er von ihrem Leid tief bewegt. [Wörtlich: drehte es ihm die Eingeweide herum] 'Weine nicht!', tröstete er sie.» (Lukas, Kapitel 7, Vers 13).
Wer barmherzig ist, fragt nicht nach der Zuständigkeit, er fühlt mit und handelt. Er fragt gar nicht unbedingt nach der Machbarkeit oder dauerhaft tragfähigen Lösungen: Er muss einfach etwas tun, weil es ihm sonst die Eingeweide herumdreht. Jemand fasste diesen Ansatz so zusammen: «Echte Barmherzigkeit fragt nicht danach, ob sie steuerabzugsfähig ist oder nicht.»
Barmherzigkeit ist Gottes grosses Geschenk an uns Menschen – und sie kann unser grosses Geschenk an unsere Mitmenschen sein. Als Herzlichkeit auf Augenhöhe, Dankbarkeit mit Gedächtnis, Geborgenheit wie bei Mama und Betroffensein bis ins Innerste.
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Datum: 02.08.2017
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet