Die furchtbare Freiheit
Judas gehört zur Passionsgeschichte – ein tragischer Typ, der in der Bibel sehr vielschichtig und komplex dargestellt wird. Die Bibel glättet nicht. Doch an Judas können wir lernen, wie Jesus mit Menschen umgeht.
Judas, der Jünger
Judas war Jünger von Jesus. Alles, was die zwölf Jünger erlebten, erfuhr er auch. Er gehörte zu den «Freunden» von Jesus (Johannes-Evangelium, Kapitel 15, Vers 15), reiste mit ihm durchs Land, hörte all seine Predigten und war Zeuge aller Wunder. Er wurde auch ausgesandt, salbte wie die anderen Jünger Kranke mit Öl, heilte sie und trieb Dämonen aus (Markus Kapitel 6, Vers 13). Judas war drei Jahre mit Jesus unterwegs, aber an seinen eigenen Dämonen zerbrach er. Er erhielt viele Chancen und muss sich an vielen kleinen Gelegenheiten gegen eine Veränderung seines Charakters gewehrt haben.
Geldgier ist eine tiefe Wurzel
Eine Hauptschwäche des Judas war seine Geldgier. In Johannes Kapitel 12, Verse 4-6 verkleidet er diese Geldgier – sehr modern! – hinter einem sozialen Anliegen, aber die Bibel kennt unser Herz. Der Rappenspalter Judas muss sich an Jesus grausam geärgert haben. Jesus gibt lieber, als dass er nimmt. Er gibt den Arbeitern, die in der letzten Stunde arbeiten, so viel wie denen, die den ganzen Tag geschuftet haben. Er lässt Vergeudung von einem Jahreslohn in Form von superteurem Parfum zu. In Jesus entlarvt Gottes Grosszügigkeit unsere Kleinlichkeit und Raffgier gnadenlos. An Jesus kann man sich darum ziemlich ärgern. Er tut nicht so, wie wir es uns ausrechnen und vergibt grenzenlos.
Gottes harte Freiheit
Die Frage ist berechtigt: Wenn Judas geldgierig, sogar «ein Dieb» war – warum vertraute Jesus ihm die Kasse an? Es scheint hier sehr deutlich, dass Jesus dem Judas eine Riesen-Chance geben wollte, seine Schwäche zu überwinden und sich zu verändern. Die grössten Schwächen in unserem Leben können Bereiche ganz grossen Segens werden – wenn wir uns verändern lassen.
Jesus wusste auch schon länger, dass Judas ihn verraten würde (Johannes Kapitel 6, Vers 71). Hier wäre unsere Frage wieder: Warum verhinderte Jesus diesen Verrat nicht? An Judas wird deutlich: Jesus lässt Menschen ihren Weg gehen. Er greift nicht gewaltsam ein. Wir haben hier ein Beispiel für Gottes seltsames «Geschehenlassen». Wünschen wir uns nicht manchmal, Gott würde eingreifen, ändern, steuern – bei anderen Menschen, aber auch bei uns selbst? Aber nein: Sehr oft lässt Gott in unserem Leben Dinge einfach geschehen, weil er uns daran etwas zeigen will. Gott will nicht unsere Nerven und wird uns nie manipulieren, aber er will unser Herz und bietet uns Heilung an. Was war es für ein Zeichen des Vertrauens, dass Judas die Kasse haben durfte! Er hätte sich Jesus anvertrauen und an dieser Aufgabe lernen können. Wenn wir unsere Schwächen ehrlich benennen, sie anschauen und mit ihnen zu Jesus kommen, kann Jesus sie heilen.
Judas, der Enttäuschte
Judas ist eine komplexe Figur. Dass er geldgierig und ein «Dieb» war, das war wie der Boden, auf dem andere giftige Früchte wachsen konnten. Er muss immer mehr mit Jesus Mühe bekommen haben – mit diesem «Messias», der die Probleme des Judas und die Probleme der Juden und die Probleme der Welt nicht mit Macht löste, sondern sie aushielt. In ihm muss Frust und Verbitterung gewachsen sein; als Folge davon beschloss er: «Mit diesem Jesus muss Schluss sein.» Er ging zu den Führern des Volkes und bot sich an, Jesus auszuliefern – natürlich gegen einen ansehnlichen Geldbetrag. Jesus allerdings liess nicht zu, dass die Initiative zum Verrat von Judas ausging. Er machte ihm deutlich, dass er wusste, was in Judas vorging, und gab ihm quasi den Anstoss zur Tat, die all die Geschehnisse der letzten Tage auslöste: «Was du tust, das tue bitte bald» (Johannes Kapitel 13, Vers 27).
Das Musical «Jesus Christ Superstar» stellt diesen Aspekt des Judas in den Vordergrund: Den von Jesus enttäuschten Mann, der früher vielleicht sogar einer der «Zeloten» (heute würde man von Taliban sprechen) war, der Eiferer, die sich für Gottes Herrschaft einsetzten; Judas, der zunehmend von Jesus enttäuscht ist und schliesslich beschliesst, dass das ein Ende haben muss. An Jesus kann man nicht neutral bleiben. Wer sich von ihm nicht gewinnen lässt, kann an ihm zerbrechen.
Nicht Angst, sondern Mut machen
Judas hatte sich ein Bild von Jesus gemacht, an dem er schliesslich zerbrach. Die Bibel ist ehrlich und glättet ihre Figuren nicht. Unser eigenes Leben mit seiner ganzen Kompliziertheit und Vielschichtigkeit wird in Personen wie Judas gespiegelt. Seine Geschichte bis zum Ende wird nicht verschwiegen – nicht um uns Angst zu machen, sondern Mut, dass wir die Sprache und das Handeln Gottes verstehen und mit unseren Schwächen und dunklen Seiten radikal und offen zu Jesus kommen.
Jesus liess Judas bis zum Schluss die Tür offen – auch ihm wusch er die Füsse (Johannes Kapitel 13, Vers 12). Judas hätte Vergebung haben können. Es gibt keinen Zwang, selbst bei den kompliziertesten Problemen, so wie Judas zu enden.
Dieser Atikel erschien im April 2014 bei Livenet.
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