Bunte Gemeinde: Je bunter, desto besser
Es ist Sonntag, 10:30 Uhr. Etwa 120 Menschen sitzen in der evangelisch-lutherischen Friedenskirche Hamburg-Jenfeld. Unter ihnen sind gut situierte und sozial benachteiligte Familien, russlanddeutsche Damen und Uli Meves, ein pensionierter Schauspieler. Mindestens 20 Gottesdienstbesucher stammen aus dem Iran oder Afghanistan, weitere 20 werden während des Gottesdienstes noch kommen. Für die persischen Geschwister wird der Gottesdienst auf Farsi übersetzt. J. mit ihren vier Kindern sowie ein älteres Ehepaar, alle aus Ghana, sitzen auch in den Reihen. A. aus Kolumbien besucht seit unserer Gemeindefreizeit den Gottesdienst regelmässig. Da öffnet sich die Tür und B. kommt ein bisschen verspätet herein. Sie leidet unter Schizophrenie und wenn es ihr nicht gut geht, muss sie das der Gemeinde lautstark mitteilen. Sie gehört zu den Friedenskirchlern und es fehlt ein wichtiges Gemeindeglied, wenn sie an einem Sonntag nicht da ist.
Mit Kompromissen leben
Diese Gottesdienstschar ist so vielfältig, dass es die Gemeinde eigentlich nicht geben dürfte, weil sie keinem gerecht wird und alle ihre eigenen Vorstellungen zur Gottesdienstgestaltung mitbringen. Würde jeder sie kompromisslos durchsetzen wollen, wäre dies das Aus der Gemeinde. Doch die Gemeinde lebt und wir sind dankbar, dass wir dazugehören dürfen.
Aber wie gelingt das Gemeindeleben? Welche Kompromisse werden den Mitgliedern abverlangt? Seit eineinhalb Jahren haben wir zielgruppenorientierte Gottesdienste. Das heisst: Einmal im Monat wird ein Gottesdienst von der Jugend organisiert, ein anderes Mal findet ein internationaler Gottesdienst statt. Alle zwölf Wochen feiern wir Gottesdienste für Gross und Klein, die eher Familien ansprechen.
Dabei betonen wir, dass zu allen Gottesdiensten jede und jeder willkommen und eingeladen ist. Das Gemeindemitglied, das eher die Orgelmusik liebt, nun aber im Jugendgottesdienst sitzt, weiss, dass sein Musikwunsch erst in der kommenden Woche erfüllt werden wird. Die Gemeindemitglieder, die gern neue Leute einladen, wissen, dass der Gottesdienst für Gross und Klein sich gut dazu eignet, weil es ein Mitmach-Gottesdienst ist. Den Familien in unserer Gemeinde ist darüber hinaus ein altersgerechtes Kinderprogramm wichtig. So können die Eltern entspannt dem Gottesdienst folgen, während die Kinder auf einfachere Weise Geschichten aus der Bibel hören. Wir sind dankbar für unser Kindergottesdienstteam, das genau dafür sorgt.
Spezifische Bedürfnisse
Man könnte die Friedenskirche als «Sowohl-als-auch-Gemeinde» bezeichnen. Es gibt sowohl die gemeinschaftsstiftenden, gemeinsamen Events wie Gottesdienste oder Gemeinschaftssonntage, an denen wir alle zusammen essen, sowie einmal im Jahr eine Gemeindefreizeit. Es gibt aber auch Orte innerhalb und ausserhalb der Gemeinde, an denen Menschen mit ihren spezifischen Bedürfnissen andocken können.
So trifft sich die grosse iranisch-afghanische Gemeinschaft einmal in der Woche gesondert zum Bibelstudium und Lobpreis auf Farsi. Bei diesen Treffen wird von unserem Integrationsreferenten und seiner Frau auch der islamische Background aufgegriffen und es werden Unterschiede zwischen den Religionen aufgezeigt. Eine Frau aus unserer Gemeinde reist immer wieder nach London, um dort intensiven geistlichen Austausch mit Freunden zu feiern, der sie in ihrem Glauben besser weiterbringt als die sonntäglichen Predigten oder der Austausch im Hauskreis.
Jede andere Kultur, jedes Alter und sowieso jeder Mensch bringt eigene Wünsche und Bedürfnisse mit in eine Gemeinde. Deshalb kann man die eigenen Erwartungen nicht zu 100 Prozent auf eine Gemeinde projizieren, sondern braucht die Offenheit für Kompromisse und die Bereitschaft für Veränderung. So wäre es beispielsweise M. aus dem Iran wichtig, dass es in der Gemeinde mehr gegenseitige Hilfe gibt, zum Beispiel für Iraner bei Behördengängen. Auf der anderen Seite bieten Menschen aus dem Iran Besuchsdienste bei Kranken oder Hilfe bei Umzügen an. Eine tolle Idee, die wir bisher nur in Einzelfällen umsetzen konnten. Wir sind auf dem Weg und es braucht immer wieder Frustrationstoleranz, wertschätzende Kommunikation, Erklärungen und Geduld miteinander.
Unterschiede akzeptieren
Wie bunt darf Gemeinde sein? Tobias Lucht, langjähriges aktives Gemeindemitglied, antwortete darauf: «Je bunter, desto besser.» Ich musste seine spontane Aussage erst sacken lassen, aber ich stimme ihm zu. Buntheit ist möglich. So stellt Gott sich Gemeinde vor. Aber es liegt an uns, ob wir es miteinander hinkriegen. Wie kann es klappen?
- Wir müssen die Unterschiedlichkeit der anderen akzeptieren und als Bereicherung wahrnehmen. D. aus Ghana meint: «Gemeinde mit so unterschiedlichen Menschen kann nur gelingen, wenn die Herzen frei von Hass sind.»
- «Es braucht gegenseitiges Vertrauen», meint U., ein älteres Kirchenmitglied. «Und es kann gelingen, wenn man zusammen erlebt, dass Gottes Geist wirkt und wir eine lebendige Beziehung zu Jesus haben.»
- Die junge Erwachsene H. betont die Wichtigkeit der gemeinsamen Werte und das gemeinsame Fundament. Baut eine Gemeinde ihr Haus auf dem dreieinigen Gott, dann stimme die Basis und die Gemeinde gerate nicht so schnell ins Wanken. Hat ein Gemeindemitglied Zweifel oder geht durch eine Krise, sei es wichtig zu wissen, dass man trotzdem angenommen und geliebt ist und durch die Krise begleitet wird.
- Wir brauchen einander in unserer Unterschiedlichkeit. Wir ergänzen und inspirieren uns, können voneinander lernen, wissen aber auch um unsere Schwachstellen und Defizite. Und wir brauchen Jesus als den, der unsere Herzen leitet. Dann ist es mir auch möglich, meinem Nächsten, der so anders ist als ich, Wertschätzung zu vermitteln und mit ihm unser Buntsein zu feiern.
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