«Vater, in deine Hände»

Jesus sagte: «Vater, in deine Hände!»
Heute geht es um das letzte Wort, das Jesus am Kreuz gesagt hat. Worshipsänger Albert Frey berichtet, wie es für ihn im letzten Jahr an Bedeutung gewonnen hat.

Januar 2022: Ein schwerer Gang, ein letzter Besuch bei meinem sterben­den Vater. Mit meiner Mutter und mei­ner jüngeren Schwester sitze ich am Krankenbett. Wir reden über früher, schauen dankbar zurück auf sein, auf unser Leben. Lichte Momente wech­seln sich mit Verwirrung ab, das Spre­chen fällt ihm schwer, seine Worte sind oft kaum verständlich. Dann spiele ich unserem Vater ein Stück Musik vor, eine eben erst entstandene Demo-Auf­nahme meiner Vertonung des letzten der sieben Worte vom Kreuz: «Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist» (Lukas Kapitel 23, Vers 46). Ich meine, eine Rüh­rung, eine Bestätigung in seinem Ge­sicht zu erkennen. Als ich es wage, ihn zu fragen, wie es für ihn ist, nun bald zu sterben, sagt er klar das Wort «Frie­den». Das ist ein Trost für uns alle. Bei allem Schmerz und aller Ambivalenz seines Lebens kann er «in Frieden gehen», wie wir es in Anlehnung an das Loblied des Simeon (Lukas Kapitel 2, Vers 29) in unserer Kultur so schön sagen.

Jetzt spüre ich, wie wichtig das ist: in Frieden loslassen zu können, sich in Gottes Hände überlassen zu können. Als wir wenige Tage später am Grab stehen, spielen wir der Trauergemein­schaft wieder dieses Musikstück vor, in der Hoffnung, dass wir so miteinan­der Schmerz und Trost zugleich besser fühlen können. Meine Frau Andrea und ich ahnen da noch nicht, dass sich Ähnliches noch zwei Mal wiederholen wird: Im Februar stehen wir am Grab meines Schwiegervaters, im Dezem­ber am Grab meiner Mutter, die nach kurzer schwerer Krankheit überraschend ebenfalls stirbt. Im Frühjahr hatte sie uns noch besucht und zu unserer Unterstützung einen grossen roten Theater-Vorhang für das Ton­studio mitgebracht, der nun im Book­let und auf den Videoaufnahmen zu sehen ist. Sie hatte in den letzten Monaten besonders intensiv die «7 Worte vom Kreuz» gehört, natürlich erfüllt von Mutterstolz, aber mehr noch er­füllt von ihrem tiefen Glauben, in dem sie mir noch näher war als mein Vater, der über Glaubensfragen lieber allge­mein als persönlich sprach.

Ein seltsames Jahr, ein dichtes Zu­sammentreffen dieser Todesfälle, das ich noch immer nicht ganz verarbeitet habe, auch wenn sie vom Lebensalter her nicht ungewöhnlich waren. Und eine seltsame persönliche Aktuali­tät, die dieses Wort nun für mich und Andrea bekommen hat. Sie prägt als Sopran-Solistin wesentliche Teile des 7 Worte-Albums. So schwingt nun manches mit, auch in diesem Musik­stück, wenn sie den vierten Vers al­leine beginnt: «Vater, in deinen Frie­den senke ich mich hinab». Es war für uns ein «annus horribilis», ein Jahr des Schreckens, und gleichzeitig ein Jahr des Trostes und der Dankbar­keit. Auch mein Schwiegervater und meine Mutter konnten im Bewusst­sein des auf sie wartenden «ewigen Friedens» gehen.

Die Hände öffnen

Bei meinen ersten Bibelarbeiten und Überlegungen zum 7-Worte-Projekt war ich überrascht, wie das Lukas­evangelium dieses friedliche Wort – ein abgewandeltes Zitat aus Psalm Kapitel 31, Vers 6, das auch als Gebet vor dem Ein­schlafen dient – einleitet: «Und Jesus rief laut». War es der Todesschrei; ein letztes Sammeln aller Kraft; ein Gebet das alle hören sollten? Um dem gerecht zu werden, habe ich es zunächst als einen lauten Ruf vertont, kombiniert mit dem Zerreissen des Vorhangs im Tempel, das Lukas unmittelbar davor erzählt. Dann aber folgt – bereits mehr in der Deutung und Übertragung – ein Choral, von dem ich mir tatsächlich schon beim Schreiben erhofft hatte, dass er bei Beerdigungen eingesetzt werden könnte.

Das Loslassen ist ein wunderbares Motiv, das mir schon vor vielen Jahren durch den amerikanischen Schrift­steller Henri Nouwen nahekam. Wie wollen wir leben: mit geschlossener Faust oder mit geöffneten Händen? Mir wird immer klarer, dass es nicht um ein theoretisches Loslassen geht, eine abgehobene Glaubensüberzeugung, sondern um konkretes Vertrauen bis in alltägliche Situationen hinein. Um die Bereitschaft, eigene Vorstellungen und eigenes Bestimmen und Gestal­ten loszulassen in Gottes Hände – und auch in die Hände anderer Menschen. Das zu lernen ist eigentlich Aufgabe der ganzen zweiten Lebenshälfte. In der ersten dürfen und sollen wir un­sere Identität, unsere eigenen Vorstel­lungen entwickeln und auch verteidi­gen. Wenn wir aber krampfhaft daran festhalten, machen wir uns selbst und anderen das Leben schwer und müs­sen am Ende der Fahrt abrupt abbremsen – und die letzte Lektion spät und schmerzhaft lernen. Oder sie gar nicht lernen – und im Unfrieden alt werden und sterben.

Loslassen und anvertrauen

Ich werde nächstes Jahr 60. Meine Gesundheit, verschiedene Über­lastungssymptome, die vermutlich verbleibende Arbeits- und Lebens­zeit – all das zwingt mich dazu zu überlegen: Was sollte ich aufhören, was können auch andere tun, was ist wirklich wichtig? Und das fällt mir schwer. Ich bin ein Homo Faber, ein Macher, ein (im wahrsten Sinne des Wortes) Selbstständiger: selbst und ständig! Ich habe mir nach einer Kindheit, in der ich mich eher un­sicher fühlte, meinen «Stand» hart erarbeitet. Und das loszulassen geht gegen meine Prägung. Aber ich habe vor allem durch meinen Glauben immer wieder etwas anderes erlebt: dass ich mich anvertrauen darf, dass ich mit Gottes Hilfe durch Kri­sen komme, dass andere etwas auf ihre Art auch gut machen, dass alles Wesentliche Geschenk ist. So bin ich gerufen, dieser anderen Erfahrung mehr Raum zu geben, damit ich nicht erst am Ende, sondern jetzt schon immer wieder sagen kann: Vater, in deine Hände lege ich meine Lasten und Sorgen, meine Pläne und Vorstel­lungen, meine Verantwortung, meine Wünsche, meine Liebe(n). Nicht als Passivität – das kenne ich als Pend­elausschlag in die andere Richtung auch –, sondern als Offenheit und Zu­hören. Ich kann auch andere Seiten sehen, in gewisser Weise sogar die göttliche Perspektive einnehmen.

Manches wird Gott mir neu zu­rückgeben, anderes werde ich ihm überlassen müssen. Oder dürfen. Ich kann und muss nicht alle Fäden zu­sammenführen, alles zu einem guten Abschluss bringen. Mein Leben bleibt ein Fragment, ein Bruchstück. Die Gnade soll genügen. Ja, das Licht der Gnade soll sogar durch die Bruchlinien meines Lebens scheinen.

Abba, Vater

Ausserdem fällt mir auf, dass dieses letzte Wort – wie das erste («Vater, vergib...») – wieder ein Gebet an den Vater im Himmel ist. Anders als im zitierten Psalm finden wir hier die Vateranrede! Bei Jesus schliesst sich ein Kreis, ein Grundmotiv: der Zwölf­jährige im Tempel, den er das Haus seines Vaters nennt (Lukas Kapitel 2, Vers 49); die Stimme vom Himmel, die er bei seiner Taufe (Matthäus Kapitel 3, Vers 17) und seiner Ver­klärung (Matthäus Kapitel 17, Vers 5) hört: «Du bist mein geliebter Sohn!»; das Vaterunser (Matthäus Kapitel 6,9); das Gleichnis vom ver­lorenen Sohn (Lukas Kapitel 15, Verse 11-32) – um nur einige Stationen zu nennen. Und schliesslich das Gebet vom Vorabend im Garten (Markus Kapitel 14, Vers 36): «Abba, Vater, alles ist dir möglich; nimm die­sen Kelch von mir; doch nicht, was ich will, sondern was du willst!». Ge­rade hier, in dieser schweren Stunde, in diesem Konflikt zwischen seinem Wunsch und dem Willen des Vaters, lesen wir das ursprüngliche aramäi­sche Kosewort: Papa, Vati.

Die Vaterliebe Gottes war eine der grossen Entdeckungen meiner mitt­leren Jahre und sie bleibt es wie eine tiefe Grundlage, zu der ich immer wie­ der zurückkehren muss. In den letzten Jahren habe ich auch andere Gottesbil­der und Zugänge zu Gott in der Bibel entdeckt, mich für die Vielfalt und die Anschlussfähigkeit dieser Namen und Bilder für moderne Menschen begeis­tert. Das beginnt beim Gottesnamen «Jahwe» (2. Mose Kapitel 3, Vers 14): Ich bin, der ich bin, ich bin für dich da. Das ist eine sehr offene Formulierung, ein Nicht­ Name, damit wir ihn nicht auf eine zu enge Vorstellung festlegen! Und das ist zeitlos genial. Der eine Gott, der das Universum erschaffen hat, ist kein Stammesgott, er übersteigt alle Namen und Bilder. Und dieser Name ist weder besonders männlich, noch besonders herrschaftlich, sondern eher fürsorglich!

Dann haben wir die weibliche Seite Gottes: Ich will euch wie eine Mutter trösten (Jesaja Kapitel 66, Vers 13), oder den im Hebräischen weiblichen Namen für den Geist Gottes: Ruach. Und schliesslich finden wir im Neuen Testament, teils versteckt in schwer übersetzbaren griechischen Originalworten, ganz grosse, universale Gottesbilder: die Liebe; die Macht (Dynamis); die Energie (Energeia), Gott, der uns umgibt, in dem wir leben; alles in allem (Univer­sum!). Entfernen wir uns damit von Jesus? Ich meine: nein. Ich will den persönlichen Gott, und ja, besonders den Vater, auf keinen Fall verlieren. Aber ich darf andere Gottesbilder da­ zugewinnen. Das ist für mich wichtig, damit mein Glaube stimmig bleibt.

Und Gott ist auch ganz anders als alle Väter, selbst als die besten. Der Vater, den Jesus beschreibt, ist ja gerade ein anderer, idealer Vater. So kann ich übrigens auch mit dem Königsbild gut umgehen: Jesus ist der dienende Herrscher, der alternative König der Herzen auf dem Esel, der König mit der Dornenkrone, der Macht nie missbraucht. Und so können wir vielleicht auch als erwachsene, moderne Menschen den Abba-Vater sehen. Es ist nur ein Bild, das Gott nie ganz beschreiben kann. Aber es ist ein Bild, mit dem ich leben und ster­ben kann. Dieses kindliche Vertrauen will ich mir auf jeden Fall bewahren, es ist am Ende wichtiger als theolo­gische und kulturelle Fragen. Und so wünsche auch ich mir meinen Über­gang in die Ewigkeit, wenn meine Zeit gekommen ist. Ich hoffe darauf, wie Jesus selbst – und wie viele vorbildli­che Menschen, die durch ihn geprägt waren – beten und erleben zu können: Vater, in deine Hände...

Zum Autor:
Albert Frey ist Singer-Songwri­ter und Musikpro­duzent. Als Refe­rent und Autor setzt er sich für theologische Weite und spiritu­elle Tiefe ein. Mit seiner Frau Andrea lebt er auf einem Pferdehof im Hohenlohekreis.

Zum Thema:
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Autor: Albert Frey
Quelle: Magazin Aufatmen 1/2024, SCM Bundes-Verlag

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