«Gott ist Liebe und Vernunft» – und was noch?
Der viel gescholtene Anders-Denker und Weltwoche-Verleger Roger Köppel hat sich in den letzten Monaten auffällig oft Gedanken über Sinn und Zukunft des christlichen Glaubens im gesellschaftlichen Kontext Europas und der Schweiz gemacht.
Köppel hat Kardinal Kurt Koch in Rom besucht und hält in der Weltwoche 4/2024 auf sechs Seiten sein Gespräch mit dem «Denker von eindrucksvoller Bescheidenheit» fest. Sein Eindruck: «Koch strahlt ein angenehmes Charisma aus, er ist kein Fernsehprediger, kein Lautsprecher, kein Feuerkopf des Glaubens. Seine Überzeugungskraft liegt in der Argumentation, in einer geradezu tänzerischen Leichtfüssigkeit, wie er historische und philosophische Bezüge herstellt, ohne mit seiner Gelehrsamkeit aufzutrumpfen.»
Hier eine subjektive Auswahl der interessantesten Zitate aus dem Gespräch.
Jesus befiehlt nicht – er betet
Zur Frage, warum Einheit der Christen wichtig ist: «…Uneinheit und Zerstrittenheit der Christen schadet der Glaubwürdigkeit des Evangeliums. Zweitens ist es natürlich der Wille Jesu. Das Fundament ist das hohepriesterliche Gebet im 17. Kapitel des Johannes-Evangeliums. Dort betet Jesus zu seinem himmlischen Vater: Alle sollen eins sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast. Es ist ja interessant: Jesus befiehlt die Einheit seinen Jüngern nicht. Er betet für sie.»
Herausforderung für die katholische Kirche
Zu den wichtigsten Herausforderungen zählt Koch neben sexual- und bioethischen Fragen «das rasante Wachstum der evangelikalen und pentekostalen Bewegungen. Das ist heute die zweitgrösste Realität nach der katholischen Kirche.» Und etwas später: «Lateinamerika wird ziemlich herausgefordert von einzelnen pentekostalen Bewegungen, wenn sie katholischen und reformierten Kirchen Mitglieder abwerben wollen.»
Auf die Frage «Warum legen die Evangelikalen dermassen zu?» präzisiert Koch: «Sie legen einen starken Akzent auf die Erfahrung des Glaubens im konkreten Leben. Und manchmal lautet ihre Botschaft: Nimmst du diesen Glauben an, geht es dir gut.»
Kirchenaustritte: «Unbekirchte Religiosität»
Neben den vielzitierten Missbräuchen sieht Koch tiefere Gründe für die grassierende Welle der Kirchaustritte (die er interessanterweise vor allem in Ländern mit Kirchensteuer ortet): «Man hat Mühe mit all den Institutionen. Könnte man aus dem Staat austreten, wie viele würden es machen? Amerikanische Religionssoziologen reden von einer 'unbekirchten Religiosität'. Menschen sind irgendwie religiös, aber sie wollen diese Religiosität nicht kirchlich leben. Und wahrscheinlich ist da schon auch ein fundamentalerer Glaubensschwund.»
Evangelisation: zu wenig überzeugt?
Auf die Frage, woran die Evangelisierung krankt: «Wir sind wahrscheinlich zu wenig überzeugt von der Kostbarkeit und Schönheit der Botschaft, die wir zu verkünden haben, und wagen dann nicht, sie wirklich zu verkünden.» Viele seien heute verunsichert durch die historisch-kritische Forschung, gegen die Koch durchaus nichts sagen will. Aber: «...die Forschung kann verunsichern. Ist dieser Jesus wirklich in Bethlehem geboren worden? Ist er denn tatsächlich der Sohn Gottes? Ist er am Kreuz für uns gestorben und auferstanden?»
Gott und die zentrale Botschaft des Christentums
Was fasziniert, was begeistert Koch? Einerseits: «Gott ist Liebe – und Vernunft. Deshalb sind Wahrheit und Liebe nicht zu trennen. Nur die Wahrheit der Liebe und die Liebe zur Wahrheit haben Zukunft.» Und weiter: «Gott ist nicht nur Mathematik, Physik, Vernunft, Naturgesetz, Logos, sondern eben vor allem auch Person und damit ansprechbar. Und Gott ist in sich Beziehung. Gott ist nicht der einsame Egoist im Himmel, er ist in sich selber Liebesbeziehung – in der Dreifaltigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist.»
Warum hat Gott das unsägliche Leid zugelassen?
Kardinal Koch: «Die Frage des Leidens ist schwierig. Wie kann Gott so etwas dulden? Ich muss sagen: Ohne Gott wäre das Leiden doch überhaupt nicht aushaltbar. Zudem erfordert es eine übergrosse Anstrengung, anzunehmen, die ganze Welt sei aus dem Zufall entstanden. Da brauche ich mehr Glauben, als wenn ich an Gott glaube. Wenn ich Gott als Vernunft und als Liebe sehe, kann ich auch verstehen, warum die Welt so ist. Ohne Gott könnte ich die Welt nicht verstehen.»
Jesus: «Gott Gerneklein»
«Der reformierte Schriftsteller-Pfarrer Kurt Marti hat es einmal in einem Gedicht ausgedrückt: 'Gott gerne klein'. Man sagt von einem Kind, es sei der Gernegross. Gott ist der Gerneklein. Es gibt eine schöne Interpretation eines mittelalterlichen Theologen. Er sagt, Gott sei dem Menschen immer in seiner Allmacht begegnet und der Mensch habe Angst bekommen vor diesem Gott, habe sich in seiner Freiheit bedroht gefühlt, darum habe sich Gott entschieden, Mensch zu werden, Kind zu werden, damit er auf Augenhöhe dem Menschen begegne und der Mensch nicht mehr Angst haben müsse, sondern die Liebe Gottes nur noch mit Gegenliebe zu erwidern in der Lage sei. Gott selber wird so klein, dass er keine Bedrohung mehr ist für den Menschen. Dann muss sich aber auch der Mensch kleinmachen. Denn wenn ich das Kind in der Krippe anschauen will, muss ich in die Knie gehen.»
«Für mich gestorben?»
Auf die Frage Köppels «Inwiefern ist Jesus Christus für mich, für die Menschen gestorben?» entspinnt sich folgender Dialog:
Kardinal Koch: Indem er uns erlöst von dem Bösen und der Sünde, die in jedem Menschen sind, was der christliche Glaube als Erbsünde bezeichnet.
Weltwoche: Worin besteht die Erlösung?
Kardinal Koch: Indem er uns seine ganze Liebe schenkt, selbst im Angesicht des Bösen, so dass auch wir durch ihn liebesfähiger werden und ewig bei ihm leben.
Weltwoche: Obwohl der Mensch, dieser himmeltraurige Kerl, den ihm mit Liebe begegnenden Gott auf schändlichste Weise ermordet, wird er nicht verworfen, bleibt er geliebt von Gott.
Kardinal Koch: Mit der Konsequenz, dass auch wir uns dann ändern. Wenn ein Auto im Morast ist, kann man die Räder drehen, wie man will, es nützt rein gar nichts. Man muss ein Brett darunterlegen, dann fährt es weiter. Ich würde dieses Bild nehmen für das, was Jesus am Kreuz tut. Er legt sozusagen sich selbst als Brett hin, damit wir wieder fahren können.
Köppels Schlussfolgerung etwas später: «Die christliche Botschaft ist so gegen unsere vordergründigen Neigungen und Instinkte, dass wir sie uns nie selber hätten ausdenken können.»
Friede auf Erden?
Am Schluss des Gesprächs geht es um die Frage, wie Religion und Kriege zusammenhängen. Köppels Frage: «Was haben diese Kriege mit dem Glaubensverlust zu tun? Wer nicht an Gott glaubt, sucht sich Ersatzgötter, vergöttert sich selbst und ist unfähig, andere Menschen, andere Kulturen zu verstehen. Konflikte sind die Folge.»
Kochs Antwort: «Nehmen wir den Weihnachtsgesang der Engel ernst – Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens. Wir hören immer gern den zweiten Teil und vergessen den ersten. Nur wenn Gott die Ehre gegeben wird, die ihm gebührt, kann auch wirklich Frieden auf Erden sein. Der Missbrauch der Religion, um Kriege zu rechtfertigen, ist deshalb ein besonderes Übel.»
Er schliesst das Gespräch: «Es wird zwar nie eine konfliktfreie Welt, aber es muss eine kriegsfreie Welt geben. Die Religion muss dazu ihren Beitrag leisten, indem sie nicht Teil der Konflikte, sondern Teil von deren Lösung ist. Denn die Zwillingsschwester der Religion ist niemals Gewalt und Krieg, sondern Friede und Gerechtigkeit.»
Hier kann das ganze Gespräch nachgelesen werden (nur mit Abo):
Weltwoche: «Gott ist Liebe – und Vernunft»
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