Das Reich der Armen
Die Bergpredigt wird geschätzt, vielfach zitiert und – auch von Kritikern – allgemein als der Kern des christlichen Glaubens angesehen. Was aber wenige wissen: Gerade im ersten Satz gibt Jesus den Schlüssel, seine ganze Lehre zu verstehen. «Glückselig sind die geistlich Armen, denn das Reich Gottes gehört ihnen» (Matthäus, Kapitel 5, Vers 3). Das ist der Einstieg. Wer diesen Knopf nicht richtig knöpft, kriegt alle weiteren Knöpfe – die ganze Bergpredigt und das Leben, das Gott verspricht – nicht auf die Reihe. Aber wer hier richtig einsteigt, dem gehört das Reich Gottes. «Liest man die Bergpredigt zum ersten Mal, hat man den Eindruck, dass alles auf den Kopf gestellt wird. Beim zweiten Mal entdeckt man, dass alles genau richtig gestellt wird. Zuerst denkt man, ein derartiges Leben sei unmöglich, um dann festzustellen, dass nichts anderes möglich ist», sagte G.K. Chesterton.
Glaube an dich selbst? Vergiss es!
Man kann sich kaum einen grösseren Kontrast zum «spirit» unserer Zeit vorstellen als dieses Wort hier. Statt «glaube an dich selbst» heisst es «sei arm». Das steht sperrig quer. Die erste Reaktion auf diesen ersten steilen Satz der Bergpredigt ist darum meistens Ärger. Wer ist schon gern arm? Der Ton passt uns nicht. Unsere Gesellschaft glaubt an Selbstvertrauen, Selbstsicherheit und Besitz. Dein «human potential» muss entwickelt werden, oder? Du bist doch jemand! Aber hier ist keine Rede von Persönlichkeit und Wirkung und Fähigkeiten. Jesus sagt knapp und deutlich: Armut hat Verheissung, ist eine Chance.
Geistlich bettelarm
Jesus meint nicht, dass arme Menschen automatisch im Reich Gottes sind. Die Bibel lehrt nirgends, dass Armut an sich etwas Gutes ist. Arme Menschen sind nicht automatisch näher bei Gott als Reiche (was nicht heisst, dass man verschwenderisch leben soll). Nein, es geht um eine «Armut im Geist». Wiederum: Das ist nicht Dummheit, Beschränktheit oder Naivität, sondern eine Grundhaltung vor Gott. Das Wort heißt eigentlich «bettelarm». Ich sehe mich vor Gott als der, der ich bin. Ich habe keine Leistung, die mich vor Gott qualifiziert. Damit mache ich mich nicht als Persönlichkeit nieder, sondern habe den Mut, zuzugeben, dass ich mit leeren Händen vor Gott stehe.
Befremdend und befreiend
Wie befreiend! Statt «tue etwas, reiss dich zusammen, hol alles aus dir raus» (was dann doch nicht genügt), verordnet uns Jesus zuerst: «Halt. Bevor du etwas leistest, erkenne erst, dass du nichts kannst – jedenfalls nichts Entscheidendes.» Von Anfang an macht Jesus es sonnenklar, was Luther als die grosse Erfahrung seines Lebens beschrieb: «Du lebst nicht aus deiner Leistung oder deiner Persönlichkeit oder deinen Stärken. Sonden aus dem, was Gott dir schenkt.» So wird man Christ: Ich kann endlich zugeben, dass ich nicht genügend vor Gott bin – und Christus annehmen, der mir von Gott als ganze Vollkommenheit zugerechnet wird.
Dieses Wort hat Konsequenzen, die wir hier nur thesenartig andeuten können:
Christentum ist keine Ethik
Jedenfalls nicht zuerst. Christsein ist nicht zuerst Tun, sondern Sein. Wer die Bergpredigt als Ethik versteht, missversteht sie gründlich. Vor der Ethik kommt der Charakter. Wir müssen zuerst immer fragen «Wie muss ein Mensch sein?», bevor wir fragen, was er tun soll. Ein Mensch muss vor Gott «arm sein», das heisst empfangen – bevor er etwas Gutes tun kann. Am Anfang und im Zentrum stehe nicht ich mit meiner Leistung. Bevor wir unsere Welt verändern wollen, müssen wir selbst im Tiefsten verändert werden.
Tun ist Tunlassen
Wenn wir Veränderung zuerst als Aktivität verstehen, haben wir den ersten Knopf falsch. Wie befreiend ist das! Ich kann mich nicht verändern, aber ich kann mich aktiv «hinhalten». Du kannst dich nicht zu einem neuen Sein machen, sondern nur machen lassen – eine Erkenntnis, die sich in Therapie und Seelsorge immer wieder bestätigt. Darum sind Zeiten mit Gott so entscheidend. «Arm sein im Geist», das bedeutet: Das Wichtigste, was ich für mich tun kann, ist, dass ich Gott an mir handeln lasse.
Das Reich der Armen
Und das Wichtigste, was ich für die Welt tun kann, ist, dass ich Gott durch mich handeln lasse. Innerlich arm sein ist die Voraussetzung, dass das Reich Gottes kommt – in meinem Leben und auf der Welt. Wenn wir beten «Dein Reich komme» heisst das also «mach uns arm, lass uns Empfangende sein» – damit wir etwas zu geben haben und Gott durch uns handeln kann.
Das Reich Gottes ist der Herrschaftsbereich Jesu Christi – es passiert da, wo Jesus zu sagen hat und wo er handelt. Das können wir nicht «verwirklichen», aber wir können es empfangen und ausleben. Das heisst nichts anderes als «allein aus Gnade» und ist nicht nur ein Einstiegstor, sondern lebenslange Grundhaltung für Menschen, die möchten, dass sich Gottes Herrschaft verwirklicht. Wer Armut zugibt, bekommt das Reich.
Wir werden uns in den kommenden Wochen mit den «Seligsprechungen» von Jesus beschäftigen. Nächste Woche: «Glückselig sind die Trauernden».
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