Die Bibel hat als erste die Ehrlichkeit erfunden

Eine aufgeschlagene Bibel
Die Bibel enstand im Nahen Osten, in dem überwiegend Ehrenkulturen herrschen. Hier ist das Ansehen einer Person immer wichtiger als Ehrlichkeit. In manchen religiösen Texten wurden gar Fehler mit der Zeit gelöscht. Ganz anders in der Bibel...

Manche Kulturen sind derart von Unehrlichkeit durchdrungen, dass man prinzipiell niemandem trauen kann. Beim Obsthändler muss man dauernd aufpassen, dass er nicht faule Früchte reinschmuggelt oder gerade die ganze Tüte austauscht; beim Hausbau, dass nicht minderwertiges Material in die Mauer verarbeitet wird; im Taxi, dass der Fahrer nicht Zusatzrunden dreht und den Weg künstlich verteuert. Am Ende darf man absolut nicht unterlassen, zu kontrollieren, ob er wirklich alle Koffer ausgeladen hat, bevor er davon fährt. Und niemand kann von einem Beamten eine Dienstleistung erwarten, ohne ihm Schmiergeld zu bezahlen. Eine Frau darf sich in manchen Kulturen  nie alleine mit einem Mann ausserhalb des Familienkreises zeigen, sonst ist ihre Ehre vielleicht für immer zerstört.

Zudem muss man kritisch hinhören, wenn einem grossartige Geschichten erzählt werden. Sie könnten sich später durchaus als unwahr erweisen. Vielerorts werden bis heute das eigene Volk und die eigene Religion idealistisch dargestellt, ganz im Gegensatz zu Fremden, die nicht selten verteufelt werden. Dies zeigt sich etwa in der Darstellung von Nichtmuslimen, welche in vielen islamischen Schriften prinzipiell als sittenlose Unmenschen beschrieben werden, was so ja überhaupt nicht stimmt.

Ehrendenken merzte Fehler aus

Wie stark das Ehrendenken sein kann, erkennt man etwa daran, dass innerhalb des Islam um seinetwillen sogar Dogmen verändert wurden. In den frühen Mekkasuren kann man tatsächlich noch von Fehlern Mohammeds lesen. (Gemäss der 80. Sure soll er beispielsweise von Gott deswegen ermahnt worden sein, weil er einen blinden Bettler abwies, der ihm Fragen über den Glauben stellen wollte. Er meinte, keine Zeit für ihn zu haben, weil er mit einem reichen Mann diskutierte, der aber gar nichts lernen wollte.) Doch unter dem Druck der Ehrenkultur hat ihn die islamische Theologie später glorifiziert und heute kann jemand, der Mohammed einen Fehler zuschreibt, mancherorts sogar dafür gestraft oder getötet werden. So steht beispielsweise in Pakistan bis heute auf «Beleidigung Mohammeds» – womit jegliche Kritik an ihm gemeint ist – ganz offiziell die Todesstrafe, denn das gilt als Gotteslästerung. Unter dem Einfluss des Ehrendenkens ist er also mehr oder weniger zu einem Gott hochstilisiert worden, ohne dass jemand dies auch nur merkt.

Helden mit Fehlern

Ganz anders und ganz verblüffend hat sich das Judentum entwickelt. Es ist dort absolut kein Problem, von den Fehlern der alten Propheten zu sprechen. Es sind nicht Menschen, sondern deren Prophezeiungen, welche als heilig gelten. Dort wird das so verstanden, dass ihre Schwächen die Heiligkeit des einzigen Gottes nicht gefährden, sondern nur noch mehr unterstreichen. Tatsächlich ist die Bibel wohl das älteste Buch, das ehrlich die Fehler der eigenen Helden wiedergibt. Und das ist umso verblüffender, als sie ja aus einem Teil der Welt kommt, der bis heute tief von Ehrenkulturen geprägt wird.

Hiob darf in der Bibel so ehrlich sein, Gott wiederholt anzugreifen und anzuklagen. Auch David nimmt in seinen Psalmen kein Blatt vor den Mund und drückt alle seine Gefühle hemmungslos aus. Jeremia sagt sogar, dass ihm sein Prophetenamt, das ihm nur Probleme und Leiden bringt, derart verleidet sei, dass er am liebsten sterben möchte. All das überrascht inmitten der Ehrenkultur des Nahen Osten.

Vom grössten Helden, dem König David, wird berichtet, wie er sogar einen treuen Gefolgsmann umgebracht habe, um seinen Ehebruch mit Bathseba zu vertuschen. Jona läuft einfach vor Gott davon, anstatt seinem Befehl zu gehorchen. Fast unzählige Male wird in den jüdischen Geschichtsbüchern das Murren und der Ungehorsam des eigenen Volkes beschrieben.

In den Evangelien setzt sich der Trend der jüdischen Schriften fort. Die Jünger Jesu werden keineswegs als Idealmenschen geschildert. Der Jünger Thomas ist gerade wegen seines Unglaubens weltberühmt geworden. Es wird nicht verschwiegen, sondern regelrecht betont, dass Petrus den Heiland in dessen schwierigster Stunde verleugnet hat. Ganz treuherzig wird sogar geschildert, dass zwei der wichtigsten Apostel, Barnabas und Paulus, gemäss den Schilderungen der Apostelgeschichte in Streit gerieten und sich voneinander trennen mussten.

Schwäche bedeutet, Blösse zu zeigen

Welch eine reife Geschichtsschreibung zu einer Zeit und an einem Ort, wo dies überhaupt nicht üblich war! (Zwar berichten die griechischen Göttermythen ebenfalls von deren fehlerhaften Verhalten, doch diese wurden von den Griechen gar nicht als schlimm, sondern als akzeptabel gesehen.) Es war nicht weniger als die Erschaffung einer ganz neuartigen Literaturgattung.

Doch es ist auch gefährlich, Schwäche zu zeigen. Man gibt sich damit eine Blösse. Tatsächlich hat die Ehrlichkeit der jüdischen Geschichtsschreiber späteren Generationen teilweise geschadet. Bösartige Menschen haben die ehrlich zugegebenen Fehler zum Anlass genommen, die Juden mit Spott und Hohn zu überschütten, oder ihnen sogar eine Minderwertigkeit anzudichten. Während den Judenverfolgungen hatte man ein leichtes Argument zur Hand. Aus ihren eigenen Büchern konnte man sozusagen ableiten, dass eben dieses Volk immer ein Widerspenstiges und Ungehorsames gewesen sei.

Kultur der Ehrlichkeit

Nicht zuletzt ihre Ehrlichkeit ist einer der Gründe dafür, weshalb die Bibel nach wie vor der weltweite Bestseller geblieben ist. Nicht selten sind es sogar Menschen, die behaupten, nicht an Gott zu glauben, welche trotzdem viele ihrer Geschichten und Sprichwörter lieben. Diese veralten nie. Sie sind gerade aus dem Grund bis heute aktuell, weil sie den Menschen so schildern, wie er ist. Es werden keine übernatürlich fehlerlosen oder superfrommen Helden dargestellt, sondern bodenständige, verletzliche Menschen, und die meisten finden erst durch Lernprozesse zur Reife. Schade, dass die Juden einen grossen Preis für ihre Ehrlichkeit bezahlen mussten, dabei hätten sie umso mehr Respekt und Dankbarkeit verdient. Denn ohne die Bibel würde es wahrscheinlich derart lebensnahe und ehrliche Bücher bis heute überhaupt noch gar nicht geben. Sie ist es, welche diesen Stil erfunden hat. Und gerade diese Art von Literatur ist es doch, auf welche wir heutzutage gar nicht verzichten möchten.

Unter dem Einfluss dieses Buches ist in Europa eine Kultur entstanden, in der Ehrlichkeit aussergewöhnlich hoch eingeschätzt wird. In den Evangelien konfrontiert Jesus die Schriftgelehrten und Pharisäer mit ihrer Heuchelei und Scheinheiligkeit. Diese Geradlinigkeit und das absolute Bekenntnis zur Wahrheit war letztlich eine der Voraussetzungen für das Entstehen der europäischen Wissenschaft und der Menschenrechte.

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Autor: Kurt Beutler
Quelle: Livenet

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