Alles auf den Kopf gestellt
Es war wirklich eine Riesenmenge von Menschen. Aus allen umliegenden Städten und Dörfern waren sie gekommen. Es hatte sich herumgesprochen, dass dieser neue Rabbi nicht nur viel besser, sondern ganz anders predigte als die Theologen in ihren Synagogen. Und er redete nicht nur – er heilte auch. Darum waren da jetzt Hunderte von Kranken beisammen: Menschen mit Schmerzen, Verkrüppelte und Behinderte. Hier waren nicht vor allem die Gutmenschen unter sich, sondern Leute mit echten Problemen. Sie alle sassen da auf dem sanften Abhang, Jesus und seine Jünger etwas höher, damit ihn alle hören können. Was folgte, ist die grösste Predigt aller Zeiten.
«Selig seid ihr»
Als Jesus anfängt zu reden, werden sie hellwach. Statt «wehe» sagt er «Selig seid ihr». Achtmal, damit es auch wirklich einfährt. Denn bei diesen «Seligpreisungen» (nachzulesen in Matthäus, Kapitel 5, Verse 1-12) sträubt sich einem zunächst der Verstand. Wieso sollen Arme oder Trauernde «glückselig zu nennen» sein? Eine nach der anderen gehen diese Aussagen so ziemlich total gegen alles, was wir im 21. Jahrhundert als positiv und erstrebenswert bezeichnen. «Eigentlich stellt man sich unter Glück Reichtum, ein sorgenfreies Leben, einen angemessenen Lebensstandard und freundliche Behandlung vor. Aber Jesus sprengt diese Vorstellungen. Die Eigenschaften, für die Jesus Glückseligkeit verspricht, verblüffen uns: Es sind Erfahrungen, die wir gewöhnlich ängstlich meiden», schreibt der Theologe Oswald Sanders.
Ironie?
Wieso preist Jesus ausgerechnet die Menschen selig, die im Schlamassel stecken (und von denen viele vor ihm sitzen)? Kann darin nicht grausame Ironie liegen? Was würde die Frau sagen, die gerade ihr Kind verloren hat und darum trauert? Oder der Christ, der um seines Glaubens willen gerade aus seinem Job gemobbt wurde? Wenn man diese «Seligpreisungen» nur als ein paar Lebensweisheiten betrachtet, können sie grausam klingen.
Aber – und damit nähern wir uns diesen rätselhaften Worten – man kann und darf die Aussagen nicht loslösen von dem, der sie sprach. «Ihr Armen, ihr Trauernden und ihr, die ihr euch nach Gerechtigkeit sehnt: Ich bin mitten unter euch. Ich habe mein Leben nicht geschont. Ich habe mich auf eure Seite gestellt. Gott ist nicht weg. Er ist nicht vor allem bei den Reichen und den Satten, sondern bei denen, die im Leben und am Leben leiden.»
Die grosse Hoffnung
Noch einmal: In den Tiefen des Lebens helfen keine allgemeinen Lebensweisheiten. Not lehrt nicht nur beten, sondern kann auch fluchen lehren. Aber Jesus gibt hier die Versicherung: Es kann keine Not so gross sein, dass der Himmel verschlossen wäre. Wenn wir alles aus den Händen verloren haben, dann ist Gott da und wartet auf uns. Am Ende unserer Wege steht nicht Verzweiflung, sondern Anfang. Darum lohnt es sich, auf diese sperrigen Sätze zu hören.
Es geht gar nicht anders
Der englische Philosoph und Autor G.K. Chesterton (1874-1936) fasst das Paradox, das uns hier entgegenkommt, so zusammen: «Liest man die Bergpredigt zum ersten Mal, hat man den Eindruck, dass alles auf den Kopf gestellt wird. Beim zweiten Mal entdeckt man, dass alles genau richtig gestellt wird. Zuerst denkt man, ein derartiges Leben sei unmöglich, um dann festzustellen, dass nichts anderes möglich ist.»
Wir werden uns in den nächsten Wochen mit den «Seligsprechungen» von Jesus beschäftigen. Den Anfang macht in der nächsten Woche «Glücklich seid ihr, wenn ihr innerlich arm seid».
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