Schamgefühl verhindert Ehrlichkeit

Markus Reichenbach
In unserer Gesellschaft nimmt Misstrauen zu. Obwohl sich fast alle zu Ehrlichkeit bekennen, werden Fakten immer mehr zur Nebensache. Markus Reichenbach erklärt den Zusammenhang mit dem Rückgang des christlichen Glaubens.

In einer Zeit, in der Politikern, Pfarrern, Lehrern und auch Wissenschaftlern misstrauisch begegnet wird, wenden sich viele Leute bei ihrer Suche nach stichhaltigen Fakten an Google – dies hat zumindest eine Umfrage ergeben. Das wirft Fragen auf.

Wenn Leiter Fehler (nicht) eingestehen können

Seit 20 Jahren ist Markus Reichenbach Projektleiter bei Jugend mit einer Mission (JMEM) und hat in diesem Zusammenhang viel über Weltanschauungen und die Auswirkungen des christlichen Glaubens studiert. Für ihn ist der gesellschaftliche Vertrauensverlust keine Überraschung. Dieser hängt nämlich mit der schwindenden Fähigkeit der Ehrlichkeit zusammen, was wiederum eine direkte Folge des Rückgangs christlicher Werte ist.

Während seiner zahlreichen Reisen nach Afrika hat Markus beobachtet, wie schambehaftet es dort ist, Fehler zuzugeben. «Ein Leiter, der Fehler zugibt, gilt als inkompetent», erklärt er. Dies stehe im Gegensatz zum konservativen Verständnis westlicher Länder, dass das Eingestehen von Fehlern ein Merkmal eines guten Leiters ist. Doch auch dieses Verständnis befindet sich derzeit im Wandel.

Theoretisch ist Ehrlichkeit einfach

Die meisten Menschen erklären Ehrlichkeit als wichtig und geben an, selbst ehrlich zu sein. Trotz dieser Bekenntnisse nimmt das Vertrauen in der Gesellschaft ab. Man geht nicht mehr davon aus, dass das Gegenüber die Wahrheit sagt – auch wenn dies betont wird.

«Ehrlichkeit beginnt damit, dass ich ehrlich zu mir selbst bin», führt Markus aus. Nur dadurch lässt sich nämlich erkennen, wenn wir Fakten zu unseren Vorteilen zurechtbiegen. Eine kleine Lüge, um selbst besser dazustehen oder eine Behauptung aus dem Bauch heraus, um den Anschein zu erwecken, kompetent zu sein. Wir sagen dem andern, was er gerne hören will und kümmern uns in diesem Moment wenig um den Wahrheitsgehalt. Political Correctness hat schon manchen dazu verleitet, sich entgegen seiner Überzeugungen zu äussern und im Geschäftsleben werden Probleme um des lieben Gewinns wegen bewusst verschwiegen oder sogar verleugnet.

Was hat Ehrlichkeit mit Christentum zu tun?

Es braucht Mut, eigenes Verhalten ehrlich unter die Lupe zu nehmen und tiefere Motive, Erfolgshunger und Ängste zu benennen. Das ist nicht einfach – besonders dann nicht, wenn wir uns vom christlichen Glauben und – damit verbunden – höheren Werten entfernt haben. Menschen versuchen zwar, ehrlich zu sein, doch gleichzeitig gelingt es nicht, zu eigenen Fehlern zu stehen. «Ehrlichkeit ist für uns eine emotionale Sache geworden.»

Markus beschreibt, wie ein gesunder, lebendiger Glaube überhaupt dazu führt, dass Menschen zur Ehrlichkeit fähig werden. «Wenn wir glauben, selbst alles gut zu machen und der Beste zu sein, werden wir nicht ehrlich sein können», sagt er. Wer seinen Wert im Gutsein sieht, wird sich selbst ins beste Licht rücken und dabei Fakten zu eigenen Gunsten verbiegen. «In allem, was ich tue, will ich so kommunizieren, wie es den Fakten entspricht», beschreibt Markus seine Haltung. «Egal, ob dies für mich Vorteile bringt oder nicht. Damit ich dies tun kann, muss ich aber zuerst einmal verstehen, was mir das Kreuz gebracht hat.»

Wenn die Scham die Kraft verliert

Der afrikanische Leiter wird erst dann zu einem ehrlichen Verhalten finden, wenn er die Kraft der Vergebung erfährt und das Kreuz als Ende seiner Scham versteht. «Wenn man keine Schamgefühle mehr hat, kann man frei zu den Fehlern stehen. Wer diese Freiheit nicht hat, wird letztlich seine Fehler immer verstecken.»

Markus beobachtet, wie heute viele Menschen unter Schamgefühlen leiden. Diese Scham verliert ihre Kraft im Verstehen des Kreuzes. «Wenn ich das Abendmahl austeile, sage ich: Du musst dich nicht mehr schämen.» Markus erkennt das Kreuz als Ort von Sühne, Vergebung und Überwinden von Scham. Das gehört alles zusammen, doch der heutige Mensch identifiziert sich eher mit Scham, als mit Schuld und deshalb sucht Markus eine entsprechende Sprache. «Wenn wir das Kreuz verstehen, müssen wir uns nicht mehr schämen», hält Markus als Fazit fest. «Und das ist auch die Grundlage für Ehrlichkeit.»

Zurück zu wahrer Ehrlichkeit finden

Wie kommen wir zu einem Lebensstil der Ehrlichkeit? Neben der Erkenntnis des Kreuzes erwähnt Markus die Gottesfurcht. Damit ist Ehrfurcht vor Gott und ein gottgefälliger Lebensstil gemeint. Er spricht von der heute zunehmenden Haltung nach dem Motto «wenn der andere es nicht merkt, ist es kein Problem». Demgegenüber stellt er ein Leben im Bewusstsein, dass Gott alles sieht und uns zur Verantwortung zieht. Ein solches habe auch gesellschaftliche Auswirkungen. «Zu wissen, dass mein Gegenüber Gottesfurcht hat, hilft mir, ihm zu vertrauen. Ich weiss, dass er die Wahrheit sagt, weil Gott das von ihm will.»

Letztlich sind es sowohl Gottesfurcht und das Bewusstsein von Vergebung und Annahme Gottes, welche uns zu Ehrlichkeit führen. «Ich beobachte Menschen, die ohne Überzeugung unsere Gemeinden besuchen», schildert Markus. «Und viele werfen ihren Glauben über Bord.» Einerseits unterstützt Markus die Ehrlichkeit, welche dazu führt, traditionelle Glaubenssätze zu hinterfragen. Gleichzeitig beobachtet er, dass viele Christen mit ihrer Kritik an der Kirche auch die Hauptbotschaft vom Kreuz über Bord werfen. Seiner Meinung nach ist die Kirche in einer kritischen Situation. Die Kirche kann sich in ihren Strukturen verändern aber die Hauptbotschaft muss wird immer die gleiche bleiben. Das Kreuz befreit die Menschen von ihren Fesseln und dies muss das zentrale Element der Kirche bleiben.

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Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet

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