Brief aus Kiew

«Stell dir vor: Alle gehen»

«Die meisten Leute sind nicht religiös. Aber jetzt betet jeder. Sie sagen: Wir haben keine Hoffnung ausser Gott!» Jeff Fountain beschreibt in einem bewegenden Bericht aus Kiew, womit JmeM-Mitarbeiter in der Ukraine täglich konfrontiert sind.
Ein Paar in einem Bunker in der Ukraine (Bild: Bigstock)
Jeff Fountain

«Stell dir vor, jede zweite Person in deiner Stadt würde gehen. Stell dir vor, in deinem eigenen Haushalt geht die Hälfte deiner eigenen Familie. Kinder und Eltern gehen, die Grosseltern bleiben. In deiner Nachbarschaft: Die, die wohlhabend sind, gehen zuerst – die, die eine Fremdsprache beherrschen, ein Geschäft haben, eine gute Ausbildung.

Versuch dir vorzustellen, wer zurückbleibt. In der Ukraine ist es die alte Generation. Die einsame Grossmutter, die während des Zweiten Weltkriegs und der Herrschaft der Sowjetunion aufgewachsen ist. Sie will nicht, dass ein weiterer Diktator versucht, die Kontrolle über ihr Leben zu übernehmen. Andere nehmen ihre Familienmitglieder auf.»

ImeM-Zentren als Hilfsstationen

Das schreibt die Missionarin Marie aus dem JMEM-Zentrum (Jugend mit einer Mission) am Ufer des Dnjepr in Kiew; sie schildert anschaulich, wie es ist, in einem Land zu überleben, das brutal und grundlos angegriffen wird. Die JMEM-Zentren in der Ukraine wurden von den Bürgermeistern der Städte beauftragt, buchstäblich Tausende von Vertriebenen aufzunehmen und ihnen Unterkunft, Nahrung, Kleidung und medizinische Versorgung zu bieten, die von anderen JMEM-Zentren in ganz Europa herangeschafft wurden, um ihnen auf ihrer Reise weiter nach Westen zu helfen. Darunter sind Grossmütter mit Enkeln, alte Männer und Frauen, einige im Rollstuhl, traumatisierte Menschen und schwangere Frauen ohne Ehemann. JMEM-Mitarbeiter versorgen auch die Menschen mit dem Nötigsten, die in den Bunkern und Häusern eingeschlossen sind und keine andere Möglichkeit haben, sich zu versorgen.

Wenn Omas Rente reichen muss

Marie beschreibt ein Kiew, in dem Söhne und Ehemänner unterwegs sind, um ihr Heimatland zu verteidigen, und die ihre Arbeitsplätze verloren haben. «Die Unternehmen sagen: 'Wir sind keine Wohltätigkeitsorganisation, wir können nicht zahlen, wenn es keine Arbeit gibt.' So wird Omas Rente plötzlich zur einzigen Einkommensquelle für viele Familien», erklärt Marie. «Nur um eine Zahl zu nennen: Eine durchschnittliche Rente in der Ukraine beträgt etwa 80 €. In der Zwischenzeit sind die Preise aufgrund der unsicheren Lebensmittelversorgung um bis zu 50 Prozent gestiegen. Gestern haben wir Tee für fast 4 € pro Packung gekauft. Man braucht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie eine Familie heutzutage von der Rente ihrer Oma lebt», schreibt sie.

Jeder betet

«Unser Telefon hört nicht auf zu klingeln. Heute wurden wir zu einem Wohnhaus gerufen, um fünfzehn Lebensmittelpakete auszuliefern. Es fühlte sich völlig verlassen an. Die Menschen machen die Tür nicht auf. Wir konnten das weisse Rauschen des Fernsehers im Inneren hören. Aber sie öffneten erst, als wir sie am Telefon anriefen. Sie haben Angst, die Tür zu öffnen. Es gibt zu viele Berichte über das Eindringen von Russen, Plünderungen und Übergriffe auf Wohngebiete. Sie haben Angst, nach draussen zu gehen. Es ist zu viel Lärm in der Luft. Also sitzen sie einfach drinnen und warten auf irgendeine Art von Rettung. Sie beten alle. Man merkt, dass die meisten von ihnen keine religiösen Menschen sind. Aber jetzt beten sie alle. Sie sagen: 'Wir haben keine Hoffnung ausser Gott!'»

Wie damals im Exil

«Jeder zweite Mensch hat Kiew verlassen», schreibt Marie weiter. «Zwei Millionen! Mehr als die Stadt Philadelphia oder Hamburg. Man sieht es an den leeren Balkonen bei Tag. Man sieht es an den dunklen Fenstern in der Nacht. Man sieht leere Parkplätze. Geschlossene Geschäfte. Verlassene Baustellen. Verlassene Grosseltern. Es fühlt sich an wie Exil. Es ähnelt dem Exil Israels in Babylon, in dem nur noch die Ärmsten des Landes übrig waren (2. Könige, Kapitel 24, Vers 14).»

Marie erinnert an diesen Überrest, der nach einer brutalen Invasion in Israel zurückblieb. Und daran, wie Jesus seinen Dienst nicht bei der religiösen Elite in Jerusalem begann, sondern am Rande, im 'Galiläa der Heiden': 'Das Volk, das in der Finsternis lebt, hat ein grosses Licht gesehen; über denen, die im Land des Todesschattens leben, ist ein Licht aufgegangen (Matthäus Kapitel 4, Vers 15)'.

Das ist es, was ihr heute Hoffnung für die Ukraine gibt: «Keine oberflächliche Hoffnung auf die Macht von Waffen oder Verbündeten. Nicht eine Hoffnung auf politische oder nationale Ideen. Sondern Hoffnung auf meinen Gott, der diejenigen, die auf ihn vertrauen, nicht zuschanden werden lässt.»

Hoffnung – jetzt ein Zeichen setzen

Beim Anblick all der verlassenen Häuser und Stadtteile, die Geisterstädten ähneln, muss Marie an Jeremia denken. Als Jerusalem belagert wurde, forderte Gott ihn auf, etwas Verrücktes zu tun: ein Stück Land zu kaufen. «Daran habe ich in den letzten Tagen oft gedacht», schreibt sie. «Die Menschen wollen einfach weg. Es wäre das Verrückteste, jetzt ein Haus zu kaufen. Alles scheint dem Untergang geweiht zu sein. Als ob wir nur darauf warten, dass das Urteil vollstreckt wird.»

«Als Missionare wollten mein Mann und ich nie ein Haus haben oder uns zu sehr niederlassen. Aber in diesen Tagen flammt etwas in unseren Herzen auf, wenn wir an Jeremias Grundstück denken. Es war mehr ein prophetischer Akt als nur ein Kauf. 'Dann erging das Wort des Herrn an Jeremia: Ich bin der Herr, der Gott der ganzen Menschheit. Ist irgendetwas zu schwer für mich?' (Jeremia Kapitel 32, Vers 26-27).

Ich bete, dass wir alle ein Stück Glauben wie Jeremia haben. Dass wir Häuser bauen und Land in einem Kriegsgebiet kaufen. In dem Wissen, dass die Hoffnung, die das bringt, und der Glaube, den es der Welt zeigt, den Preis, den wir bezahlt haben, bei weitem übersteigen. Wenn wir ein paar Ersparnisse hätten, würde ich sogar ein kleines Haus in der Nachbarschaft kaufen. Nur um zu zeigen, dass ich Hoffnung habe. Für dieses Land, für die Menschen und für das Reich Gottes.»

Jeff Fountain ist Leiter des «Round Table» von «Hope for Europe»; nachdem er 20 Jahre Leiter von Jugend mit einer Mission Europa war, wirkt er heute als Direktor des «Schuman Center für europäische Studien» (www.schumancentre.eu)

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Datum: 08.04.2022
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet / Weekly Word von Jeff Fountain

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