Frutigen – Blick auf ein frommes Dorf
Die 7'000-Einwohner-Gemeinde ist als frommer Ort mit einer ungewöhnlich hohen Dichte an Gläubigen bekannt. Bei einem Spaziergang durch die steilen Strassen fällt jedem Besucher auf, dass in die Holzfassaden der imposanten traditionellen Häuser Bibelverse eingeritzt sind. Wenn man am Fluss entlang spaziert, findet man eine Art Holzschrank mit Neuen Testamenten, evangelistischen Flyern in verschiedenen Sprachen und handgefertigten Notizbüchern, alle laminiert für Regentage und mit der Einladung, Kopien mit nach Hause zu nehmen.
Bei einem Spaziergang durch die Stadt stösst man auf mehr als eines der sechs evangelischen kirchlichen Gebäude. In zwei dieser Gemeinden versammeln sich an einem typischen Sonntag mehr als 250 Menschen. Eine Tafel am Kinderspielplatz im Stadtzentrum dankt der Jugendgruppe der Pfingstgemeinde für ihre Ideen zur Gestaltung eines tollen Platzes für die Jüngsten mit Seilbahn, Kletterbereich, Tunnel, Schaukeln und Picknicktischen.
Und in der Politik haben die beiden evangelikal geprägten Parteien (EDU: konservativ, EVP: gemässigt progressiv) bei den letzten Wahlen 26 Prozent der Stimmen erhalten, ein viel höheres Ergebnis als auf nationaler Ebene, wo die Unterstützung für diese beiden Parteien normalerweise unter 4 Prozent liegt.
Merkt man etwas?
Für einen Touristen wie mich stellte sich beim Geniessen von Frutigen die Frage: Spürt man in den Beziehungen und in der Atmosphäre der Stadt, dass so viele Einheimische einen engagierten christlichen Glauben haben?
Diese Frage stellte ich Freunden an einem schönen Juliabend bei einem Raclette (ein typisches Schweizer Gericht aus Käse und Kartoffeln) und die Antwort war nicht so eindeutig. Jahrzehntelang hatten die unterschiedlichen theologischen Hintergründe zu schwierigen Beziehungen zwischen Gemeinden und Familien geführt, die sich zwar in ihrer Bindung an die Bibel, nicht aber in der Auslegung bestimmter Themen und ihrer Anwendung auf das kirchliche Leben einig waren. Diese Spannungen hatten sich sogar auf die nachfolgenden Generationen übertragen und in einigen Fällen zu Verletzungen und Misstrauen zwischen den Kirchen geführt.
Und dies an einem Ort, der dafür bekannt ist, Missionare in andere Teile der Welt auszusenden, christliches Material zu übersetzen und in unterversorgten Gebieten Europas zu verteilen.
Versöhnung und Umdenken
Doch Frutigen erlebt derzeit eine Phase der geistlichen Erneuerung, wie mir dieselben Leute erzählten. Im Sommer organisieren die Gemeinden verschiedener Herkunft eine gemeinsame Agenda, indem sie ihre Sonntagsgottesdienste abwechselnd in der einen oder anderen Kirche abhalten und so ihre Mitglieder zusammenbringen.
Mittlerweile ist die neue Generation gut aufgestellt und überlegt gemeinsam, wie sie die Generationen Z (geboren zwischen 1995 und 2010) und Alpha (geboren zwischen 2010 und 2025) durch Sport und Evangelisation erreichen können. Ein Beispiel dafür sind die «Open Heaven Days», die vom 18. bis 20.Oktober stattfinden. Dies ist eine gemeinsame Initiative der Jugendgruppen der Kirchen, um ihre Freunde zu erreichen. Die Reihe von Abenden in der städtischen Sporthalle bilden ein Festival von Musik, Gesprächen über die gute Nachricht und Gelegenheiten, dass für die Besucher gebetet wird.
Einen Sonntag vorher findet der jährliche Dorfgottesdienst (Gottesdienst für die ganze Stadt) statt. In diesem Fall ist es eine Gelegenheit für Nachbarn jeden Alters, die sich für den christlichen Glauben interessieren könnten, aber «Gott noch nicht persönlich kennen». Auch hier beteiligen sich Mitglieder von sechs verschiedenen Kirchen am Programm, an den Aktivitäten für Kinder und am abschliessenden Kaffee und Kuchen. Im vergangenen Jahr nahmen rund 500 Menschen an der Veranstaltung teil.
«Ich glaube, das ist ein Zeichen dafür, dass im Laufe der Jahre eine Versöhnung und ein Umdenken stattgefunden hat und dass man immer mehr spürt: Hier in Frutigen leben viele Christen! Wir schaffen es, zusammenzuarbeiten», sagt ein Gemeindemitglied.
Inwiefern verändert ein lebendiger Glaube eine Stadt? Am Beispiel von Frutigen – und eigentlich jeder Stadt – lässt sich ein ganz praktischer Ansatzpunkt aufzeigen: Inwieweit sind wir bereit, mit anderen zusammenzuarbeiten, um Gottes Auftrag unter unseren Nachbarn zu erfüllen?
Zum Thema:
170 Waisenkinder aufgenommen: Christliches Dorf in China ist ein Abbild der Bibel
Zeit-Chef Giovanni Di Lorenzo: «Der Blick auf das Christentum ist uns wichtig»
Ein erfolgreiches Projekt: Wenn die Kirche das Dorf entdeckt