Alte Gnade statt neuer Härte?

Die Diskussionen können verschieden gehandhabt werden.
Die gesellschaftliche Diskussion wird von einer zunehmenden Härte bestimmt. Wie können Christinnen und Christen hier berechtigte Grenzen mittragen und gleichzeitig Gottes Barmherzigkeit leben?

In den 1990er Jahren entwickelte sich eine neue Musikrichtung. Bands wie Oomph!, Rammstein, Subway to Sally und Unheilig etablierten das, was heute als «Neue Deutsche Härte» bekannt ist. Wie immer in der Musikgeschichte war das Phänomen nicht völlig neu, aber die Ausrichtung auf harte Klänge schaffte ihren Weg im Laufe der Jahre bis hin in den traditionellen Schlager: Höhepunkt war sicher, dass der Schlagersänger Heino ab 2013 mit fast 80 Jahren zwei Alben mit harten Rock- und Metal-Klängen aufnahm. Sehr erfolgreich. Inzwischen ist der Hype abgeebbt, gleichzeitig hat sich vieles der damals neuen Härte etabliert – so funktionieren musikalische, aber auch gesellschaftliche Weiterentwicklungen.

Momentan findet eine ähnliche «Neue Härte» in Gesellschaft und Politik statt. Praktisch alle politischen Parteien in Europa profilieren sich gerade über Fragen der Abgrenzung, Einschnitte und inneren wie äusseren Sicherheit. Wie reagieren Christinnen und Christen auf dieses gesellschaftliche Phänomen?

Harte Positionen

Abgrenzung und Sicherheit waren schon immer integrale Bestandteile von Politik, aber zurzeit haben härtere Positionen eine besondere Qualität und sind deutlich bestimmender in der Diskussion als in den vergangenen Jahren. Das wird deutlich bei Themen wie Migration und Flucht. Stimmen, die Integration, offene Türen und Hilfe fordern, sind deutlich leiser geworden. Stattdessen werden Mauern und Auffanglager vor den europäischen Grenzen gefordert, ist die Rede von Zuzugsquoten und dem Unattraktiv-Machen des Flüchtlingsstatus’.

Diese Tendenzen zu einer neuen Härte beschränken sich allerdings nicht auf Geflüchtete und den Umgang mit ihnen, sondern betreffen auch die meisten anderen politischen Themen. Tragfähige Realpolitik ist eben etwas anderes als idealistische Vorstellungen, die sich nicht umsetzen lassen, verkünden die Vertreter dieser härteren Gangart oft. Allerdings ignorieren sie dabei, dass auch ihre scheinbare Härte oft eher Ideal als Wirklichkeit ist, weil sie zwar das gesellschaftliche Klima verändert, aber nicht so wie gefordert umgesetzt werden kann (oder darf).

Härte als Zeitgeist

Aus christlicher Sicht wird immer mal wieder über den Zeitgeist und seine Ausprägungen gesprochen. Dabei liegt der Fokus vielfach auf Themen wie «Verfall der Werte», Gendersprache und ähnlichem. Selten ist es Teil der christlichen Wahrnehmung, dass auch gesellschaftliche Wärme oder Kälte und natürlich die bereits angesprochene Härte in politischen Fragen Zeitgeistphänomene sind. Das macht sie weder besser noch schlechter und bewertet sie in keiner Weise, aber es zeigt: Dieses Denken und Reden entwickelt sich als Reaktion auf das, was gerade um uns herum geschieht – vom Ukrainekrieg bis hin zur angespannteren wirtschaftlichen Lage. Und es ist gewissen Wellen unterworfen: Reaktionen und Gegenreaktionen. Wie immer in Zeitgeistfragen ist es glücklicherweise (!) gar nicht möglich, dass sich Kirchen und Gemeinden auf eine angeblich überzeitliche Position zurückziehen. Sie sind mittendrin im gesellschaftlichen Geschehen und unterliegen den gleichen Einflüssen.

Notwendige Gegenakzente der Gemeinde

Ein wichtiger Punkt im Umgang mit tagespolitischen Fragen ist sicher, dass die Bibel keine direkten Antworten darauf gibt. Weder zu Asylfragen noch zur Frage, ob am Ortsrand ein Windrad gebaut werden sollte. Das mag man bedauern, aber es zeigt, wie gross der Freiraum und Gestaltungsspielraum von Christen ist. Kein Wunder, dass sie deshalb in praktisch allen politischen Parteien vertreten sind.

Über alle möglichen Unterschiede hinaus gibt es aber Punkte, die mehr als politisches Denken erfordern, Punkte, bei denen christlich geprägtes Denken gefragt ist. Gerade weil die Bibel keine konkreten Handlungsanweisungen für Detailfragen gibt, ist es wichtig, auf die grossen Linien darin zu achten. Dann sind in einer härter werdenden Gesellschaft plötzlich Gnade, Barmherzigkeit und Nächstenliebe Werte, die eine wichtige Grundlage auch für gesellschaftliche Entscheidungen bieten können. Wer sich daran orientieren möchte, hat noch keine Antworten auf einzelne Fragen gefunden, bringt aber die Haltung von Jesus selbst mit unbequemen oder herausfordernden Gedanken ein – als wichtigen Gegenakzent.

Ein praktisches Beispiel, wie so etwas aussehen kann, formuliert Josephine Furian, Pfarrerin in Görlitz, mit dem Artikel «… bau einen längeren Tisch, keine höheren Mauern» im Portal feinschwarz. Dies ist nur ein Antwortversuch auf eine Frage – es sind noch viel mehr nötig. Aber Versuche wie dieser zeigen, dass Christen durchaus einen Beitrag in die gesellschaftliche Diskussion hinein haben. Und dass alte biblische Themen wie Gnade und Barmherzigkeit wichtige Korrektive für die neue Härte sind.

Zum Thema:
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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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