«Jetzt kommt es auf die Hoffnung an»
«Er ist keiner von denen, wo man jetzt sagen könnte, dass er in Frieden ruhen möge; sondern einer von denen, bei denen ich sage: Ich freue mich hoffnungsvoll darauf, ihm in Gottes Zukunft wieder begegnen zu können.» Mit diesen Worten verabschiedet sich der Theologe Thorsten Dietz von Jürgen Moltmann, dessen Student er in jungen Jahren eine Zeitlang sein durfte.
Jürgen Moltmann wurde 1926 in Hamburg geboren und wuchs in einer atheistischen Familie auf. Durch den Zweiten Weltkrieg wurde er tief geprägt: Als junger Luftwaffenhelfer bei der Flakbatterie erlebte er das Bombeninferno mit Feuersturm, das im Juli 1943 über Hamburg herging. Ein Schulfreund wurde dabei neben ihm zerrissen. Mit 19 Jahren kam er in britische Kriegsgefangenschaft, die drei Jahre andauerte. Durch die Lektüre der Bibel kam er dort zum christlichen Glauben. An der Universität Göttingen studierte er anschliessend Evangelische Theologie. Von 1953 bis 1958 war er Pfarrer und Studentenpfarrer in Bremen,1957 wurde er Professor an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, 1963 wechselte er an die Universität Bonn. 1967 erhielt er einen Ruf an die Universität Tübingen, wo er bis zu seiner Emeritierung 1994 als Professor für Systematische Theologie lehrte.
63 Jahre war Moltmann mit der 2016 gestorbenen feministischen Theologin Elisabeth Moltman-Wendel verheiratet. Das Paar hat vier Töchter. Moltmann hat bis in sein hohes Alter international zahlreiche Gastprofessuren und Vortragsreisen wahrgenommen und erhielt für seine Arbeit diverse Preise und 19 Ehrendoktorate.
Theologie der Hoffnung: Die Zukunft hat schon begonnen
In Auseinandersetzung mit dem ebenfalls in Tübingen lehrenden marxistisch-atheistischen Philosophen Ernst Bloch veröffentlichte Moltmann 1964 seine «Theologie der Hoffnung», die ihn berühmt machte. Das Buch galt damals als Aufbruch in der Theologie. In den USA wurde er nach dem Erscheinen als «Herold eines neuen Protestantismus» gerühmt, wie es in einem «Spiegel»-Artikel Ende der 1960er Jahre hiess: Moltmann propagiere ein umstürzlerisches, gesellschaftsveränderndes Christentum. Auch wenn die Schweizer Theologielegende Karl Barth (1886–1968) argwöhnte, mit seiner «Theologie der Hoffnung» habe Moltmann das legendäre «Prinzip Hoffnung» – das Hauptwerk von Ernst Bloch – christlich «getauft», muss man positiv sagen: Hier ist eine christliche Alternative zu Karl Marx; der christliche Glaube ist alles andere als «Opium des Volks». Im Gegenteil: Die Hoffnung des Christen ist eine aktiv treibende Kraft in der Gesellschaft, sagt Moltmann: «Deshalb verursacht der Glaube, wo immer er sich zur Hoffnung entwickelt, nicht Ruhe, sondern Unruhe, nicht Geduld, sondern Ungeduld. Er beruhigt nicht das unruhige Herz, sondern ist selbst dieses unruhige Herz im Menschen. Wer auf Christus hofft, kann die Wirklichkeit, wie sie ist, nicht mehr ertragen, sondern beginnt unter ihr zu leiden, ihr zu widersprechen. Frieden mit Gott bedeutet Konflikt mit der Welt, denn der Stachel der verheissenen Zukunft sticht unerbittlich in das Fleisch jeder unerfüllten Gegenwart.»
Denen, die so «hungern und dürsten nach Gerechtigkeit», gehört bekanntlich das Reich Gottes. Der Theologe Reiner Strunk fasst die Theologie von Jürgen Moltmann so zusammen: «Das Reich Gottes meint kein utopisches Traumland am Ende der Tage, sondern ein Realsymbol für die geschichtsbewegenden und lebensverändernden Energien des Gottesgeistes; der will Menschen ergreifen, und sie sollen sich von ihm ergreifen lassen. Denn die Zukunft hat schon begonnen.»
Der gekreuzigte Gott: «Ohne Christus wäre ich Atheist»
Im 1972 erschienenen Buch «Der gekreuzigte Gott» stellt Jürgen Moltmann nicht die Auferstehung, sondern das Kreuz in den Mittelpunkt, das für ihn für Gottes Liebe steht. Er fragt allerdings nicht vor allem, was das Kreuz für den Menschen, sondern was es für Gott bedeutet: Jesus erleidet den Tod, und der Vater leidet am Tod seines Sohnes, Gott ist also leidensfähig. Christus machte die Erfahrung der Gottverlassenheit – ein Trost für alle, die das auch erleben. Aber auch der Vater litt am Kreuz mit: Das Sterben des Sohnes entspricht dem Leiden des Vaters und die Vaterlosigkeit des Sohnes der Sohnlosigkeit des Vaters.
Das Kreuz ist die einzige Lösung von Gottes Dilemma: dass er in seiner Heiligkeit authentisch bleibt und doch die Menschheit lieben kann, dass sie nicht von ihm getrennt und damit unerlöst bleiben muss. Im Kreuz ist beides geschehen: Gottes Heiligkeit ist bewahrt geblieben, weil Gott selbst sich in Christus dem Gerichtsurteil des Todes stellte. Er hat die Sünden der Welt selber getragen. Damit sind sie erledigt. Das bedeutet aber zugleich, dass die Menschen nun dank dieser selbstopfernden Liebestat mit Gott versöhnt worden sind. Moltmann: «Indem wir in die Tiefen des Todes Christi am Kreuz eintauchen, finden wir die Gewissheit, dass Gott Erlösung und nicht Zerstörung will, Erlösung und nicht Verdammnis, Wiederherstellung und nicht Verlassenheit.»
In einem Interview 2017 erklärte Moltmann, dass diese Liebe Gottes ihn zum Glauben gebracht habe: «Gott ist Liebe, die sich in Christus gezeigt hat. Ich komme aus einer atheistischen Familie und glaube an Gott um Christi willen, glaube an den Gott Jesu Christi. Ohne Christus wäre ich Atheist. Aus der Geschichte und aus der Natur würde ich nicht auf den Gedanken an Gott kommen – und dass Gott Liebe ist.»
Am Lebensende: «Wir werden erwartet»
Mit über 90 Jahren dachte Moltmann neu über Tod und Auferstehung nach. Nach dem Tod seiner geliebten Frau Elisabeth habe sich sein «Dasein radikal verändert». Das grosse Thema «Hoffnung» sei für ihn nun auch zum persönlichen Problem geworden. In seinem 2020 erschienenen Buch «Auferstanden in das ewige Leben: Über das Sterben und Erwachen einer lebendigen Seele» verbindet er theologische Überlegungen mit persönlichen Gedanken und Erfahrungen. Die Auferstehung Christi gab ihm Gewissheit für die Welt und auch für ihn persönlich: «Die Zukunft im Licht der Auferstehung Jesu Christi zu sehen, macht gelassen gegenüber dem apokalyptischen Alarmismus damals und heute» – dies, obwohl er sich sehr z.B. für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Schöpfung einsetzte.
«Alle Prognosen sind unsicher geworden», heisst es in einem der letzten Bücher von Jürgen Moltmann: «Jetzt kommt es auf die Hoffnung an.» Und diese Hoffnung ist sehr real. «Wir sterben in die Auferstehung hinein und das ewige Leben ist das Leben der kommenden Welt», schreibt Moltmann und nimmt den Themen Trauer und Tod alles Endliche.
«Hundert Jahre alt möchte ich nicht mehr werden», bekannte der Theologe noch auf der Feier seines 95. Geburtstages: «Aber wir leben in die Auferstehung hinein, nicht in den Tod.» Im bereits erwähnten Interview machte Moltmann klar, was ihm das bedeutet: «Im religiösen Sinne ist der Tod kein Ende, sondern ein Übergang. Ich mache mir das klar durch den einfachen Satz: Wir werden erwartet – von Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde, und von Jesus Christus, der schon auferstanden ist. Und von denen, die wir sehr herzlich lieben.»
Jürgen Moltmann war kein Evangelikaler. Aber er hat die zentralen Inhalte unseres Glaubens – das Reich Gottes, Tod und Auferstehung Jesu – auf eine tiefe Weise durchreflektiert und zeitlos gültig ausgedrückt.
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