War Jesus ein schlechter Evangelist?
«Wann läuft bei euch in der Gemeinde die nächste Evangelisation?» – «Im Herbst. Ich freu mich schon darauf. Wir haben einen vollmächtigen Evangelisten angefragt und ich rechne damit, dass viele Leute sich einladen lassen, nach vorne gehen und Gott kennenlernen.» – «Das hört sich wunderbar an. Schön, dass ihr als Gemeinde so unterwegs seid, wie Jesus sich das gedacht hat.»
Es ist tatsächlich schön, wenn es in Kirchen und Gemeinden zur Normalität gehört, über den eigenen Glauben zu sprechen, wenn Christen regelmässig mit Andersdenkenden im Austausch sind. Doch interessanterweise haben sich dafür Formen entwickelt, die nur noch wenig mit dem zu tun haben, was Jesus selbst praktizierte – und das liegt nicht nur daran, dass er eben über keine Kirche mit bequemen Stühlen, einem Beamer und einem hippen Musikteam verfügte. Eher ist es dem Umstand geschuldet, dass Evangelisation für Jesus weder eine Aktion war noch eine Veranstaltung.
Evangelisten heute
Wer fällt Ihnen zuerst ein, wenn Sie an einen Evangelisten denken? Billy Graham? Dann wären Sie in guter Gesellschaft, denn der US-Prediger (1918-2018) hat das westliche Bild des Evangelisten geprägt wie kein Zweiter. Er füllte Säle und ganze Stadien mit seinen Grossevangelisationen und sprach zu Millionen von Menschen. Unvergesslich bleibt sein Anheben der Bibel zusammen mit der Aussage «the Bible says…» (die Bibel sagt). Seine aktuellen Kollegen – meist sind es nur Männer – haben ähnliche Markenzeichen. Typisch für Billy Graham war seine Art und Weise, zu einer persönlichen Umkehr zu Gott aufzurufen und das öffentlich durch ein Nach-vorne-Kommen zu unterstreichen («altar call»). Mit seinen Predigten richtete er sich an ein breites Publikum und er vermied theologisch kontroverse Themen, um die zentrale Botschaft der Erlösung durch Jesus Christus zu betonen.
Beim Betrachten aktueller Evangelisten ist sein Einfluss auf die meisten klar erkennbar. Auch wenn heute bis auf einige Veranstaltungen in Afrika die Säle kleiner geworden sind, orientieren sie sich immer noch an den Prinzipien der sogenannten Massenevangelisation. Daran ist auch nichts verkehrt. Ab und zu kann es aber sinnvoll sein, sich klarzumachen, dass das nur wenig mit der Art zu tun hat, wie Jesus zu Menschen gesprochen hat, um sie zu sich und in seine Nachfolge einzuladen.
Berührt, erschreckt, gelangweilt
Moderne Evangelisationen sind geprägt durch eine glasklare Kommunikation. Die Botschaft ist einfach und verständlich, selten ist Raum für Grautöne im klaren Schwarz und Weiss. Sünderinnen und Sünder sollen genau wissen, welche drei Schritte sie gehen müssen, um ihr Leben mit Gott ins Reine zu bringen. Selbst das Bekehrungsgebet wird sicherheitshalber vorgesprochen und kann von allen, die es möchten, Wort für Wort nachgebetet werden.
Klarheit ist eine feine Sache, doch ohne dabei «beliebig» zu werden, ging Jesus selbst einen völlig anderen Weg. Er predigte zwar auch, doch hauptsächlich stellte er Fragen. Und wenn Menschen zu ihm kamen und ihn fragten – der Traum jedes heutigen Evangelisten! – antwortete er in der Regel mit einer Gegenfrage. Nur eine knappe Handvoll seiner konkreten Antworten sind in den Evangelien überliefert. Im Gegensatz zu sucherorientierten und leicht verständlichen Predigten heute gebrauchte Jesus mit voller Absicht rätselhafte Gleichnisse. Bis heute geschieht das Wunder, dass Menschen von evangelistischen Veranstaltungen berührt werden und sich dabei auf ein Leben mit Jesus einlassen. Doch viele sind auch erschreckt, weil sie sich in der eindimensionalen und reduzierten Botschaft nicht wiederfinden, oder sie langweilen sich, weil sie die immer gleichen Worte von Gott und seiner rettenden Liebe gern einmal erleben und nicht nur hören würden.
«Aber es geht doch ums Ergebnis», sagen die Evangelisten eindringlich. «Menschen müssen den Weg aus der Finsternis zum Licht finden.» Es bleibt allerdings die Frage, ob es hier um Gottes Ergebnis geht oder um unseres – eines, das sich vorweisen lässt («Bei der letzten Evangelisation haben sich 37 Personen zum ersten Mal entschieden und 121 haben ihre Entscheidung aus der Vergangenheit noch einmal bekräftigt.»). Interessanterweise entliess Jesus damals einige Menschen als geheilt, ohne ihnen irgendeine theologische Information mitzugeben, anderen sagte er nur: «Geh hin und sündige nicht mehr.» (Johannes, Kapitel 8, Vers 11) War das überhaupt möglich? Ein einziges Mal forderte er einen Theologen auf, «von Neuem geboren» zu werden (Johannes, Kapitel 3). Nikodemus verstand nur Bahnhof, aber diese Redewendung bestimmt die Evangelisation bis heute. Kann es sein, dass Jesus viel stärker das vielschichtige persönliche Gespräch suchte als den «Verkaufsabschluss»?
Geheimnisvoll und trotzdem nah?
Keine Frage: Auch Jesus konfrontierte Menschen – meist allerdings seine Nachfolger und die besonders Frommen. Und auch damals wollten sich nicht alle auf ein Leben mit ihm einlassen. Doch den anderen begegnete er auf seine geheimnisvolle Art. Er forderte sie nicht zu einem einmaligen Übergabegebet auf, damit sie anschliessend in den Himmel kämen, sondern provozierte sie mit Geschichten, die unter die Haut gingen wie die vom barmherzigen Samaritaner. Sein «geh du hin und handle ebenso» (Lukas, Kapitel 10, Vers 37) stört und fordert Menschen bis heute heraus. Es gibt ihnen etwas zum Nachdenken und stellt Lebenswege auf den Kopf. Evangelisation heute ist eher konfrontativ und fordert Menschen auf, «die Sache mit Jesus festzumachen». Jesus selbst war in dieser Beziehung ein schlechter Evangelist: Er lud Menschen zu sich ein, verbrachte Zeit mit ihnen, diskutierte und ass, und rechnete damit, dass sich ihr Leben ändern würde – was es auch tat!
«Es gibt auch heute Freundschaftsevangelisation», heisst es hier schnell. Stimmt und das ist gut so. Allerdings ist sie den meisten Kirchen und Gemeinden unter dem Strich zu anstrengend. «Echte» Evangelisation besteht für sie aus einer Veranstaltung mit guter Musik, einer herausfordernden Predigt, einem ermutigenden Lebensbericht und natürlich dem Ruf, nach vorne zum Kreuz zu kommen. Noch einmal: Daran ist nichts verkehrt. Es ist aber nicht die «echte» Evangelisation, sondern eine der vielen möglichen Formen. Die von Jesus sah anders aus – und sie hat bis heute viel für sich.
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