Ist «Rain Man» der typische Autist?

Elisabeth A. setzt sich seit 16 Jahren intensiv mit dem Thema ASS (Autismus Spektrum Störung) auseinander.
Viele Menschen sind von ASS (Autismus Spektrum Störung) betroffen – viele nur geringfügig, bei einigen wirkt sich dies aber stärker aus und äussert sich als soziale Beeinträchtigung. Im Interview beantwortet Elisabeth A. Fragen zum Thema.

Elisabeth A. setzt sich seit 16 Jahren intensiv mit dem Thema ASS (Autismus Spektrum Störung) auseinander. Sie hat viele Bücher und Erfahrungsberichte gelesen. Von Wissenschaftlern wie dem Autismusforscher Simon Baron-Cohen oder dem Psychologen Tony Attwood profitierte sie viel. Für Livenet beantwortet sie einige Fragen.

Wie äussert es sich, wenn Menschen von ASS (Autismus Spektrum Störung) betroffen sind?
Elisabeth A.: Die Bandbreite der Auswirkungen ist sehr gross und oft komplex. Bei jedem Betroffenen äussern sie sich anders. Die drei typischen Kennzeichen sind erstens eine unterschiedliche Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung, zweitens ausgeprägtes Interesse für spezifische Themen und drittens Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation. Logisch nachvollziehbare Dinge liegen Menschen mit autistischer Wahrnehmung grundsätzlich besser als emotionale, intuitive und zwischenmenschliche Themen.

Autismus wurde erstmals durch den Film «Rain Man» einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Wird da ein typischer Autist porträtiert oder eher ein Einzelfall?
Wer einen Autisten kennt, kennt damit nur diesen einen. Jeder ist unterschiedlich! Ich finde es trotzdem gut, dass es diesen Film gibt. «Rain Man» befindet sich auf dem ausgeprägteren Ende des Autismus-Spektrums. Sein Kopf ist voller Statistiken und in manchen Bereichen ist er ein Genie. Anderseits kann er seinen Alltag nicht ohne Hilfe meistern und gerät bei Änderungen in seinem Tagesablauf sehr schnell in einen Ausnahmezustand. Die meisten Menschen mit autistischer Wahrnehmung können jedoch nicht mit ihm verglichen werden.

Sind Autisten immer intelligent?
Es gibt auch hier die ganze Bandbreite. Tragischerweise sind viele durch die autistische Wahrnehmung so eingeschränkt, dass sie ihre besonderen Fähigkeiten nicht richtig abrufen können. Solche, die ihren fokussierten Themen ungestört nachgehen können, leisten sehr zuverlässige und manchmal sogar brillante Arbeit.

Lieben Menschen mit autistischer Wahrnehmung grundsätzlich keine Überraschungen?
Viele Menschen lieben Überraschungen, doch die allermeisten haben eine Toleranzgrenze, wo eine Überraschung zur Überforderung wird. Bei Menschen auf dem Spektrum liegt diese Toleranzgrenze ungleich viel tiefer. Deshalb verursachen Überraschungen und Planänderungen für sie rasch sehr viel Stress.

Können autistisch wahrnehmende Menschen auf natürliche Weise daraus herauswachsen?
Die Wahrnehmung kann nicht grundsätzlich verändert werden. Manche Betroffene können jedoch kognitiv lernen, dass die Wahrnehmung für andere Menschen anders ist.

Das wäre also ein Lernprozess?
Ja. Beispielsweise ist nonverbale Kommunikation für ASS-Betroffenen schlecht erkennbar und die Interpretation geschieht nicht intuitiv. Intuition ist für die allermeisten Menschen mit autistischer Wahrnehmung ein Rätsel. Sie können durch Erfahrung einiges dazu lernen, doch das ist mit viel Anstrengung verbunden.

Ist dies der Grund, weshalb Menschen auf dem Spektrum viel Erholung brauchen?
Ja, für Menschen mit ASS ist das Leben grundsätzlich anstrengend – meist sehr viel anstrengender als für andere. In der Folge brauchen sie genügend Zeit für Erholung, und wenn sie diese Zeit nicht haben, geraten sie irgendwann in eine Erschöpfung.

Wieweit ist eine autistische Wahrnehmung eine Beeinträchtigung?
Da heute emotionale Intelligenz und Intuition sehr wichtig sind, äussert ASS sich häufig als soziale Beeinträchtigung. Im sozialen Bereich entsprechen Betroffene nicht der Norm und das irritiert ihre Umwelt. Für Menschen mit ASS ist es zudem wichtig, dass etwas «in der Sache» stimmt. Es muss logisch und korrekt sein – wie es den Mitmenschen dabei geht, ist weniger wichtig.

Menschen mit autistischer Wahrnehmung scheinen oft stur und unflexibel.
Menschen mit ASS sind oft auf eine Sache fokussiert und können dabei tatsächlich sehr stur sein. Eine Sache loszulassen ist schwierig und braucht Zeit. Menschen mit einer anderen Meinung stehen zu lassen, ist ebenfalls nicht leicht für sie. Hinter der stur scheinenden Haltung steckt aber häufig Angst vor Kontrollverlust. ASS-Betroffene finden Sicherheit in klaren Strukturen und Ritualen. Wenn diese wegbrechen und ein Fixpunkt plötzlich nicht mehr da ist, wirkt das bedrohlich. Deshalb ist es für Angehörige wichtig, Rituale und Gewohnheiten soweit irgendwie möglich zu akzeptieren.

Was raten Sie Menschen, welche in einer Paarbeziehung mit einer autistisch wahrnehmenden Person leben?
Eine übliche Eheseelsorge zu besuchen, ist in den wenigsten Situationen sinnvoll. Der betroffene Partner fühlt sich nicht verstanden und die Seelsorger sind am Ende frustriert, weil die angewandten Methoden nicht funktionieren. Es braucht deshalb eine Beratungsperson, welche über Autismus Bescheid weiss. In christlicher Seelsorge ist dieses Wissen bis jetzt erst selten vorhanden und deshalb empfiehlt es sich, lieber eine entsprechende säkulare Fachstelle aufzusuchen.

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Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet

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