«Es braucht Menschen mit Gestaltungsmut!»

Thomas Härry am Willow Creek-Leitungskongress 2024
Mit einem Aufruf zu «Gestaltungsmut» des Schweizer Bestsellerautors Thomas Härry ging am Samstag der dreitägige Willow-Creek-Leitungskongress in Karlsruhe zu Ende. Härry zeigte auf, was massvolles Leiten bedeutet und wo Gefahren lauern.

Gesunde Leiterschaft in Kirchen zu fördern, ist eines der Lebensthemen von Thomas Härry, über das er immer wieder schreibt und spricht. In seinem jüngsten Buch «Die Seele des Leitens» befasst er sich mit der menschlichen Seele und wie Gott in ihr wirkt und wie er sie versorgt. Ursprung dieses Buches, das im SCM-Verlag erschienen ist, war Härrys Vortrag am Willow Creek-Kongress 2022 in Leipzig (mehr dazu im Livenet-Talk vom 20. Juli 2023). Am Kongress in Karlsruhe rückte Härry ein weiteres Leiterschaftsthema ins Blickfeld, jenes der massvollen Leiterschaft.

Das gute Mass finden

Massvoll zu leiten, gehört für Thomas Härry zu einer der wichtigsten Führungsaufgaben. «Wenn Führungspersonen das gute Mass verlieren, spielen zwei grosse Kräfte eine grosse Rolle», warnte Härry die rund 7'000 Zuhörerinnen und Zuhörer zum Abschluss der Leitungskonferenz in Karlsruhe. Diese zwei Kräfte seien einerseits Vermessenheit und andererseits der Kleinmut. Das Thema Vermessenheit veranschaulichte Härry mit der Geschichte der Terra-Nova-Expedition des britischen Polarforschers Robert Falcon Scott von 1910 bis 1913.

Im Dienst der britischen Krone wollten Scott und seine 65-köpfige Mannschaft die ersten sein, die zum Südpol durchdrangen. Doch die Expedition endete in einem Desaster. Nach einer zweijährigenn Reise voller Strapazen erreichten Scott und seine fünfköpfige Vorhut zwar den Südpol. Dort erwartete sie eine unbeschreibliche Enttäuschung: eine ins Eis gerammte norwegische Flagge. Was war passiert? Roald Amundsen, Scotts grösster Konkurrenz, war ganze 30 Tage schneller gewesen. Scott war am Boden zerstört, was für eine Blamage! Auf dem Rückweg gerieten sie in solche Unwetter, dass sie kaum weiterkamen. Ein erster Mann starb. Ein zweiter setzte seinem Leben angesichts der hoffnungslosen Lage ein Ende. Kurz darauf erfroren die Verbliebenen – auch Scott. Die bittere Nachricht erreichte die Welt einige Wochen später.

Das Problem des Jagens nach Ruhm

Experten analysieren bis heute, was bei der Expedition alles schiefgelaufen war. An einigen Stellen sind sie sich einig. Scott unterliefen in der Vorbereitung Flüchtigkeitsfehler. Der Grund dafür lag in der Konkurrenzsituation gegenüber Amundsen. Scott, bzw die Briten, wollten unbedingt die ersten am Südpol sein. Ein Historiker spricht in diesem Zusammenhang von 'the trouble of fame' – dem Problem des Jagens nach Ruhm. «Dieser ungezügelte Ehrgeiz», wie Thomas Härry die fehlgeleiteten Motive von Scott in eigenen Worten zusammenfasste, habe zu folgenschweren Fehlern geführt. So habe Scott zum Beispiel zu wenige Schlittenhunde dabei gehabt. Stattdessen nahm er 19 Ponys mit, die in der Antarktis bald schlapp machten.

Die Expedition scheiterte im Wesentlichen an der Ruhmsucht und am Zeitdruck und der daraus resultierenden Unsorgfalt in den Vorbereitungen, bilanzierte Thomas Härry in seiner Predigt. «Oder anders gesagt: Scott und seine Auftraggeber hatten das gute Mass verloren.»

Das andere Extrem: Kleinmut

Anhand einer Waage demonstrierte Thomas Härry gesunde Ausgewogenheit

Härry beobachtet jedoch gerade in der Leiterschaft von Christen in Kirchen und Werken häufiger ein anderes Phänomen, das einer Organisation ebenso Schaden zufügen kann: den Kleinmut. Dieser trete dort auf, wo Leitungspersonen sich nichts zutrauen, und nichts Mutiges wagen und sich von 1'Befürchtungen und Gefahren lähmen lassen.

«Woran leiden unsere Kirchen denn am Ende mehr, an der Vermessenheit oder am Kleinmut ihrer Leiter?», warf Thomas Härry als rhetorische Frage ein, um die Antwort gleich selbst zu geben. «Es gibt beides. Ich vermute aber, dass hinter vielen Kirchenmauern der Kleinmut herrscht.» Und direkt an die Zuhörerinnen und Zuhörer gerichtet fragte der Theologe: «Hat dein Zögern und Zagen an manchen Tagen mit Kleinmut zu tun? Kann es sein, dass du ständig an dir selbst zweifelst? Kann es ein, dass du den Gaben und Fähigkeiten nicht traust, die Gott dir gegeben hat? Dass du das Urteil und die Kritik der Anderen mehr fürchtest als Gott selbst?»

Der Weg, den ein Leiter anstreben sollte, ist nach Härry jener der gesunden Ausgewogenheit, weder überheblich, noch kleinmütig, aber immer in einer klaren Fokussierung auf Gott, denn am Ende gehe es um die Treue zu Christus.

Gefragt ist mehr «Chuzpe»!

Thomas Härry warb in seinem Referat in Karlsruhe dafür, Herausforderungen im persönlichen Leben und den Gemeinden mit «Gestaltungsmut» anzugehen. Für diesen Gestaltungsmut verwendete er das hebräische Wort «Chuzpe». Chuzpe heisst Frechheit, Unverfrorenheit, Wagemut. Chuzpe ist kluge Unverschämtheit, charmante Hartnäckigkeit. Wer Chuzpe hat, der macht dort weiter, wo andere die Hoffnung aufgeben. Der erhebt seine Stimme dort, wo andere ängstlich schweigen. Chuzpe heisst: Wagemutig glauben. An Menschen glauben. Besonders aber an Gott, der uns eine Idee oder einen Menschen aufs Herz gelegt hat.

Jesus habe Menschen mit Chuzpe bewundert, so Härry. «Jesus erzählte die Geschichte einer unverschämten Frau, die einem Richter so lange auf die Nerven ging, bis dieser sich um ihren Rechtsfall kümmerte (...). Jesus zieht daraus ein erstaunliches Fazit: 'Mit solcher Chuzpe-Beharrlichkeit dürft ihr euch an euren himmlischen Vater wenden und er wird euch Recht verschaffen!' Chuzpe heisst: Dranbleiben. Nicht beim ersten Nein stehen bleiben. Es nochmal versuchen.»

Er selbst wolle sich mit Chuzpe für Gottes Sache engagieren, betonte Thomas Härry. «Ich tue es zum Beispiel dann, wenn ich die Überzeugung habe, dass eine bestimmte Person ideal zu einer bestimmten Aufgabe passt. Dann nutze ich alle legalen Mittel, um sie dafür zu gewinnen. Oft kommt zuerst ein Nein. Manchmal ist mir klar, dass ich es akzeptieren muss. Meistens aber hake ich nach und werbe noch ein zweites Mal. Kommt noch einmal ein Nein, hake ich öfter ein drittes Mal nach. Und siehe da: Manchmal kommt nach dem dritten Mal ein Ja. Weshalb lasse ich nicht locker? Weil ich sehe, dass sich manche die Aufgabe nicht zutrauen. Sie zweifeln an sich selbst. Und so versuche ich ihren Kleinmut, ihr inneres Gefängnis, zu knacken.»

Natürlich sei der Grat zur Manipulation bei solch hartnäckigen Anfragen schmal. Aber er beobachte, dass viele Christen viel zu schnell von «verschlossenen Türen» sprechen. Er habe schon da und dort eine Wende erlebt, wo er nicht zu schnell aufgegeben habe.

Zukunft des Leitungskongresses ungewiss

Auf dem Programm des Leitungskongresses standen Themen wie «Hoffnung in Krisenzeiten», der Umgang mit Traumata, Veränderung in Gemeinden und Ausblicke auf die Zukunft von Kirche. Dazu gab es praktische Tipps und Einblicke in kirchliche «Leuchtturmprojekte», viel Lobpreismusik und die Gelegenheit zum Netzwerken. Im benachbarten Messesaal stellten zudem über 200 christliche Werke und Einrichtungen ihre Arbeit vor. 400 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer waren auf dem und rund um das Kongressgelände im Einsatz.

«7'000 Menschen, was für ein Segen!», resümierte Ulrich Eggers, der Vorsitzende von Willow Creek Deutschland, zum Abschluss und kündigte an: «Wir möchten im Februar 2026 den nächsten Leitungskongress veranstalten.» Dies sei jedoch mit finanziellen Risiken verbunden. Im Namen des Vorstands warb er um dauerhafte, finanzielle Unterstützung. «Das wäre eine riesige Hilfe», sagte Eggers. Die Entscheidung über den nächsten Kongress soll nach Ostern fallen.

Zur Website:
Willow Creek Kongress

Zum Thema:
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Autor: Florian Wüthrich
Quelle: Livenet

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