Flüchtende in heiligen Räumen

«Jetzt braucht es offene Kirchen!»

Flüchtende aus der Ukraine aufnehmen – guter Wille ist eins, Koordination etwas anderes. Mit «kirchen-helfen.ch» haben initiative Christen in kurzer Zeit ein funktionierendes Netzwerk aufgebaut.
Ukrainische Flüchtlinge in der Schweiz bei der Organisation «kirchen-helfen» (Bild: zVg)
Flüchtlinge erzählen... (Bild: Screenshot Youtube)
Paul Bruderer (Bild: Screenshot Youtube)

Manchmal geht es ganz schnell. Als Paul Bruderer, Pastor der Chrischonagemeinde Frauenfeld, realisierte, dass da eine Flüchtlingswelle auf uns zukommt, wurde ihm schnell klar: Einer der Zufluchtsorte musste sein Gemeindehaus sein. Bereits ganz früh – Anfang März – hatte seine Gemeinde die ersten fünf Frauen aus der Ukraine mit sieben Kindern liebevoll aufgenommen. «Als sie in unserer Gemeinde sangen und für ihr Land und für Russland beteten, habe ich Jesus so hell aufstrahlen sehen, wie schon lange nicht mehr», bekennt Paul Bruderer mit Tränen in den Augen.

Bereits am Anfang des Krieges konnte Bruderers Gemeinde eine grosse Kollekte an einen befreundeten ukrainischen Pastor schicken, und die Hilfsbereitschaft kannte keine Grenzen. Jetzt wohnen die zwölf Geflüchteten in der Gemeinde, ein kleines Team geht mit den Frauen und Kindern um und hat begonnen, einen Alltag für sie zu organisieren. Schule, Deutschlernen, Putzen – alles wird langsam in die Wege geleitet. «Sogar ein Fitnessclub hat ihnen Training angeboten», schmunzelt Bruderer.

Wut und Hass? Aber nein!

Als ein Zeitungsreporter die Frauen fragte, ob sie nicht Wut oder Hass auf die Russen empfänden, strahlten sie ungläubig: «Wut und Hass? Aber nein! Wir trauern mit den Russen, segnen unsere Feinde und beten für unsere Verfolger» – etwas, was der Reporter «total nicht erwartet hat», so Bruderer. «Sie leben etwas, das man nicht für möglich hält, wenn man Jesus nicht kennt. Sie haben ja ihren Männern und Vätern Adieu sagen müssen, ohne zu wissen, ob sie sie je wiedersehen. Aber sie wirken nicht panisch, nicht verängstigt, nicht deprimiert – man merkt, dass Schweres da ist, aber durch ihren Glauben sind sie sehr gefasst.»

Durch diese Flüchtenden erfuhr die Gemeinde plötzlich, dass man, wenn man Segen weitergibt, selbst enorm gesegnet wird, erklärt Bruderer: «Das wünsche ich eigentlich vielen Kirchen, dass sie durch Flüchtende ganz viel Segen erleben können.» Denn: «Es gibt mir das Gefühl, ein Teil von etwas Grossem zu sein, das hält, wenn alles andere zusammenbricht. Ich möchte, dass das alle erleben könnten.» Diese fünf Frauen waren erst der Anfang.

«Gute Infrastruktur» und Verbindungen der Kirchen

Paul Bruderer wusste: Es gibt viele Kirchen- und Freikirchengebäude in der Schweiz, die während der Woche weitgehend leerstehen und doch, mit etwas gutem Willen, eine gute und familienfreundliche Infrastruktur bieten, Menschen aufzunehmen – dies nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zu privater Unterbringung. Um die Möglichkeiten dieser Kirchen und Gemeinden zu koordinieren und zu vernetzen, haben die Schweizerische Evangelische Allianz SEA und der Freikirchenverband Paul und Peter Bruderer gebeten, die Flüchtlingsarbeit zu koordinieren. In kurzer Zeit entstand eine kleine NGO, und die Website wurde ins Leben gerufen.  

Mittlerweile sind es über 75 Kirchen und Freikirchen, die sich auf kirchen-helfen.ch registriert haben. Die Idee dahinter: Kirchen sowohl als Unterbringungsorte, aber auch als lokale Koordinatoren für die Unterbringung von Flüchtlingen einzusetzen. Schliesslich hat es in der Schweiz in jedem Dorf eine Kirche. «Die Hilfsbereitschaft aus den Gemeinden und der Bevölkerung ist riesig und ein Challenge, das zu managen», so Bruderer. Durch kirchen-helfen.ch soll die Hilfe kanalisiert und netzwerkartig ausgebreitet werden; doch Bruderer hofft, dass sich noch viele Kirchen engagieren lassen.

Kirchen und Privatpersonen gefragt

Privatpersonen, die helfen wollen, rät Paul Bruderer: «Registriert euch auf kirchen-helfen.ch und wartet dann auf die Kontaktaufnahme durch uns oder einen lokalen Pastor.» Im Moment (Mitte März) stehen auf der Website über 2'000 Schlafplätze zur Verfügung (auch wenn aus verschiedenen Gründen nicht alle sofort belegt werden können), 570 Haushalte haben sich schon gemeldet. «Wir glauben, dass der Zustrom von Flüchtenden – leider – massiv zunehmen wird», ist Bruderer überzeugt. «Und wenn die kommen, sollten die Plätze parat sein.»

Vom Thurgau in die ganze Schweiz

Die Flüchtenden werden auf die ganze Schweiz verteilt. So fanden Mitte März 150 Personen in einer koordinierten Operation, geleitet von Peter Bruderer, Zuflucht in Kirchen und Häusern der Schweiz. Die logistische Drehscheibe wurde in der Chrischonagemeinde Felben eingerichtet; für 150 Personen wurde ein Morgenessen parat gemacht, ein polnischer Bus, der kurz vor Ziel liegengeblieben war, wurde repariert. Surprise Reisen stellte einen Doppeldecker zur Verfügung, um die Flüchtenden nach Flaach ins Wyland und ins Bernbiet zu bringen, wo Stephan Maag ein altes Schulhaus und andere locations gemietet hatte. Auch ins Rheintal hinein wurden Flüchtende gebracht – immer waren es christliche Kirchen und Gemeinden aller Couleur, die als Kontakte und Koordinatoren dienten.

Die nächsten Busse werden kommen

«Die nächsten Busse werden kommen», weiss Peter Bruderer. Das dringendste Anliegen darum: Es braucht noch mehr geöffnete Kirchen. «Was in den ersten zwei Wochen in kleinen Gruppen eingetroffen ist, kommt nun in Form von Busladungen», beschreibt er die Herausforderung. «In den ersten zwei Wochen haben wir 40 Personen platziert. Diese Woche sind es 250. Nächste Woche nicht weniger. Wir schaffen es auch bei unserem grossen Bettenpool jeweils nur haarscharf, die passenden Betten rechtzeitig warm zu bekommen.»

Zum Youtube-Video:

Zur Webseite:
kirchen-helfen.ch

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Datum: 22.03.2022
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet / BraveBeLIFE / Facebook

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