«Ich kenne alle Menschen in den Videos»
«Ich habe den Islam verlassen und bin zum Christentum konvertiert.» So oder so ähnlich hört man diesen Satz auf Arabisch in mehreren Videos, die inhaftierte Christen in Libyen zeigen. Veröffentlicht wurden sie auf dem YouTube-Kanal der libyschen ISA, einer Miliz, die sich unter anderem mit der Bekämpfung von Drogen, Kriminalität und Migration befasst. Insgesamt sind inzwischen neun Videos erschienen. Zu sehen sind sieben libysche Männer, eine 22-jährige libysche Frau und zwei Amerikaner. Allesamt Christen.
In den professionell produzierten Videos sprechen die Libyer ausführlich darüber, wie sie zum Glauben gekommen sind. Alle Gesichter sind unkenntlich gemacht, bei der Frau der ganze Körper. Namen und Orte, die in den Interviews genannt werden, sind mit einem Störgeräusch entfernt.
Die beiden Amerikaner sind mittlerweile wieder frei. Open Doors, ein Hilfswerk für verfolgte Christen, spricht auf Anfrage von PRO von drei ausländisch inhaftierten Christen: «Einer davon ist noch in Gefangenschaft. Zwei amerikanische Christen haben vorletztes Wochenende das Land verlassen.» Auch die Londoner Zeitung Al-Sharq Al-Awsat berichtet von der Freilassung. Die US-Bürger hätten den internationalen Flughafen von Tripolis mit einem Privatflugzeug in Richtung der USA über Malta verlassen.
Open Doors reiht Libyen auf Platz fünf im Weltverfolgungsindex von Christen. Sowohl Christen als auch Migranten seien extremer Gewalt ausgesetzt.
Sprachschule als geheimer Treffpunkt von Christen
Einer der inzwischen befreiten Amerikaner, 50 Jahre alt, sagt in den Videos auf Englisch: «Ich bin verurteilt, weil ich das Evangelium mit Libyern geteilt habe, weil ich über Jesus geredet habe.» Er betreibe eine Englischsprachschule in Tripolis, sei missionarisch aktiv gewesen und habe Bibeln organisiert. Er berichtet auch von einer Art Geheimbibel. Diese wird im Video offensichtlich eingeblendet.
Zunächst sieht sie aus wie ein leeres Notizbuch. Dann geht ein blaues Licht an und eine arabische Schrift wird lesbar. Fast 40 Sekunden lang werden verschiedene Seiten umgeblättert. Am Anfang des Buches steht auf Arabisch «Kiteb Il-hiata», zu Deutsch: Buch des Lebens.
In der Sprachschule habe der US-Bürger libyschen Christen erlaubt zu beten: «Wir haben mit ihnen gebetet und sie ermutigt. Sie brauchten einen Platz, um sich zu treffen.» Die Libyer sprechen in den Videos mehrfach über die beiden Amerikaner und über die Sprachschule.
Einer berichtet, dass er von einem der beiden zu einer Weihnachtsfeier eingeladen wurde. «Von diesem Zeitpunkt an begann ich mich über das Christentum zu informieren.»
Später habe er sich bekehrt, sich taufen lassen und sich ein- bis zweimal pro Woche mit anderen Christen in der Sprachschule getroffen. Ein anderer Libyer erzählt, er habe Zweifel am Islam gehabt, die Social-Media-Seite «Masih fi Libya» (Christus in Libyen) gefunden und sei so zum Sprachzentrum gekommen. Dort habe er sich später bekehrt.
«Es sind normale Menschen»
Doch warum hat die ISA solche Videos überhaupt veröffentlicht? «Die Videos dienen der Abschreckung und sollen die Öffentlichkeit auf ihre Seite ziehen», sagt Mirco Keilberth, der für die «Süddeutsche Zeitung» aus der arabischen Welt berichtet, im Gespräch mit PRO. Die Miliz ISA brauche auch einen Grund, um neben Militär und Polizei zu existieren. Mit dieser Art Arbeitsnachweis rechtfertigt sie vor der Bevölkerung ihr Bestehen und wählt dafür Bereiche, in denen die Mehrheit der Libyer zu ihr steht.
Im Nachbarland Tunesien lebt Hamsa (Name aus Sicherheitsgründen geändert), ein junger Libyer. Zu PRO sagt er: «Ich kenne alle Menschen in den Videos, es sind gute Freunde aus meiner Kirche. Ich kenne auch ihre Familien. Die meisten sind verheiratet und haben Kinder.» Weiter sagt er: «Man hat sie nur verhaftet, weil sie Christen sind. Es sind normale Menschen, die ihrer Arbeit und ihrem Leben in Tripolis nachgegangen sind.»
Er erzählt, dass er sich vor vier Jahren zum Christentum bekehrt und den Islam verlassen habe. Das habe erhebliche Konsequenzen für ihn gehabt. Vor zwei Jahren sei er, als er mit dem Auto unterwegs war, von der ISA inhaftiert worden: «Eine Reihe an Autos stoppten mich damals. Ich dachte erst, es ist eine normale Kontrolle. Aber dann fingen sie an zu schreien: 'Wir wissen, dass du ein Christ bist.' Dann haben sie mich einfach mitgenommen, nahmen mein Handy, und niemand wusste, wo ich bin.»
Als ein Freund ihn später angerufen habe, habe ein ISA-Mann den Anruf angenommen und gesagt: «Wir haben deinen Freund, denn er ist ein Christ, er ist eine schlechte Person.» Im Gefängnis hätten sie versucht, ihn zu zwingen die Chahada, das muslimische Glaubensbekenntnis, zu sprechen. Man habe ihn «wie ein Tier» behandelt, körperlich verletzt und ein Bein gebrochen.
«Die Situation war nicht einfach für mich, aber gleichzeitig habe ich gefühlt, dass Gott in dieser schweren Zeit bei mir war. Ich wollte nicht lügen und er hat mich davor beschützt, Namen oder sonst etwas preiszugeben.» Drei Tage lang habe er in einem komplett dunklen Raum verbringen müssen. Danach kam er wieder frei.
Als die ISA im April 2022 bereits ähnliche Videos veröffentlichte, sei in einem auch sein Name genannt worden. Daraufhin sei er von Tripolis nach Bengasi gezogen. Zu diesem Zeitpunkt habe er das Land noch nicht verlassen wollen, da er es als seine Aufgabe angesehen habe, anderen das Evangelium zu verkünden.
Nach drei Monaten, im Juli 2022, habe er sich jedoch zur Flucht nach Tunesien entschlossen. «Meine Familie wollte mich umbringen, weil ich eine Schande für sie bin.» Die Nachbarn hätten zu seiner Familie gesagt, dass sie schlechte Menschen seien, weil sie nicht wüssten, wie sie ihn erziehen sollten.
Auch in Tunesien nicht sicher
Im toleranteren Tunesien angekommen, versuchte er, so normal wie möglich zu leben. Er besuchte eine Kirche, eine Bibelgruppe, fand neue Freunde und einen Job. Seine regelmässige Teilnahme an Gottesdiensten und am Gemeindeleben bestätigt gegenüber PRO auch ein Pastor einer tunesischen Kirche.
Doch die Unsicherheit blieb: «Um ehrlich zu sein, habe ich mich auch hier nie sicher gefühlt. Tunesien und Libyen, das sind Brüder. Ausserdem gibt es hier sehr viele Libyer.» Es sei nicht auszuschliessen, dass er gekidnappt und zurück nach Libyen gebracht werde.
In Libyen gibt es keine Zentralregierung, die für Recht und Ordnung sorgt. Das führt dazu, dass laut Open Doors «sowohl militante islamische Extremistengruppen als auch organisierte Verbrecherbanden die Macht ausüben». In Tripolis sitzt die sogenannte «Regierung der nationalen Einheit», die international anerkannt und vom Übergangspräsidenten Abdul Hamid Dbaiba geführt wird. Hatte dieser einen Einfluss auf die Inhaftierung der Christen?
«Es ist nicht ganz klar, ob Abdul Hamid Dbaiba über die ISA verfügen kann», sagt Keilberth. Dbaiba habe auch immer wieder bestritten, dass es solche Angriffe gegeben habe. Die genaue Befehlskette sei nicht bekannt. Dennoch sei «die ISA eine staatliche Institution, die formal der Regierung in Tripolis untersteht».
«Angriff auf das gesamte Christentum in Libyen»
In Libyen leben mehrere zehntausend Migranten, viele von ihnen aus Subsahara-Ländern. Doch es kommt, wie NGOs berichten, immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen. Die UN spricht von Folter, Vergewaltigung und sexueller Ausbeutung. Für christliche Migranten, die aus Subsahara-Ländern nach Tripolis kommen, sei die Kirche dort eine wesentliche Anlaufstelle, so der Journalist Keilberth.
Christliche Migranten dürfen im Gegensatz zu Libyern Kirchen besuchen. Doch auch sie stehen laut Open Doors im Visier «militanter islamischer Gruppen und organisierter krimineller Gruppen». Die Inhaftierung der Christen in den Videos wertet Keilberth als «Angriff auf das Christentum in Libyen».
Die ISA-Videos dürften den Hass auf Christen verstärken, was sich auch auf die Situation der Migranten auswirken könnte. Keilberth: «Wenn die internationale Staatengemeinschaft jetzt keine rote Linie zieht, ist auch die logistische Versorgung vieler Migranten dramatisch infrage gestellt.»
Hamsa hat sich seit der Veröffentlichung der Videos zurückgezogen, seine Angst ist gross. Gerne würde er nach Europa. Doch Frankreich, Italien und die Türkei hätten ihm kein Visum erteilt. Letzte Woche versuchte er, Tunesien zu verlassen, er hatte eine Perspektive in einem fernasiatischen Land. Libyer können weltweit nur in sehr wenige Länder ohne Visum einreisen.
Doch beim Zwischenstopp in Istanbul sei es zu Problemen gekommen und er musste wieder umkehren – zurück nach Tunesien. Wo er weiterhin sitzt, und auf einen Ausweg hofft: «Der Plan ist, Tunesien so schnell wie möglich zu verlassen. Sonst werde ich bald im Himmel sein.»
Dieser Artikel erschien zuerst auf PRO Medienmagazin
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