«Eigentlich sollte ich längst tot sein»
Die Alpakas heben die Köpfe, als sie das Pfeifen hören. Sie traben auf ihre Betreuerin «Rägi» Schink zu, die sie zum Stall begleitet. Seit sechs Jahren hilft die Winterthurerin auf der CurlyRanch als Allrounderin mit, wenn ihre Kräfte es erlauben. Der Bibellesebund Schweiz bietet hier im deutschen Öhningen, unweit von Stein am Rhein, Reitlager und Alpaka-Trekkings für Kinder und Jugendliche an. «Eigentlich sollte ich längst tot sein», steigt Regula Schink steil ins Gespräch ein. Seit 29 Jahren lebt die quirlige Frau mit Krebs. Zuerst waren Weichteile, Brust- und Unterleib betroffen, inzwischen hat sie im ganzen Körper Ableger, dazu Osteosarkome (Tumore am Knochen). Aber Rägi ist eine Kämpferin. Das wird unmissverständlich klar, als sie zu erzählen beginnt.
Überlebenstraining
In ihrer Kindheit und Jugend sind die Eltern aus beruflichen Gründen oft nicht zu Hause. In dieser Zeit «zigeunern» Rägi und ihre Brüder draussen herum und lernen viel übers Kämpfen und Überleben. Das Mädchen wird früh selbstständig. Wegen ihres ADHS-Syndroms erlebt Rägi auch ihre Schulzeit als Kampf. Highlight ist für sie, wenn sie ihrem Vater handwerklich helfen darf. Als Sanitärfachmann baut er damals das alte Wohnhaus der Familie um und lehrt seine Tochter alles, was sie interessiert. Früh zeigt und entwickelt sich Rägis handwerkliches Geschick. Sie sagt: «Mein Vater war ein wunderbares Vorbild für mich.» Auch ihr Gottesbild prägt er, vertraut Papa blind. Während der Pubertät gerät sie in schlechte Gesellschaft, konsumiert Drogen und landet in Zürich am Platzspitz.
Ein Tumor und zwei Kinder
Schliesslich schafft sie den Ausstieg, lernt Floristin und engagiert sich als Jungscharleiterin in ihrer Kirche. Dort begegnet sie Michael. Er ist sehr strukturiert, sie freiheitsliebend – die beiden ergänzen sich prima und heiraten bald einmal. Trotz Liebe spürt Rägi eine diffuse Distanz. Während sie eine Bibelschule besucht, absolviert Michael die Offiziersschule, Kinder sind kein Thema. «Im ersten Jahr haben wir uns nicht oft gesehen», sagt Rägi. Trotz Verhütung wird sie mit 24 Jahren schwanger. Gleichzeitig entdecken die Ärzte einen Tumor auf ihrer Niere. Er kann entfernt werden, das Kind kommt drei Monate zu früh zur Welt. Michael ist mit seiner kranken Frau und dem kleinen Mädchen überfordert. «Stefanie wog 1420 Gramm, war gesund, aber auch ich hatte keine Ahnung, wie ich mit ihr umgehen sollte», erinnert sich Rägi. Eine andere junge Mutter erklärt ihr damals alles Nötige. Aufgrund ihrer Bestrahlungen erfährt Rägi von den Ärzten, dass sie wohl keine Kinder mehr bekommen könne – drei Jahre später wird Oliver geboren.
Wie der Vater…
Als er in den Kindergarten kommt, verhält sich Oliver auffällig. Es stellt sich heraus, dass er vom Asperger-Syndrom, einem Spektrum von Autismus, sowie einer Seh- und Hörbehinderung betroffen ist. «Plötzlich ging mir ein Licht auf, ich realisierte, dass Ersteres auch auf Michael zutrifft!», sagt Regula Schink. Von da an weiss und versteht sie, dass ihr Mann seine Liebe und Wertschätzung anders ausdrückt als durch körperliche Nähe. «Wenn er meine Kochkünste rühmt, meint er damit auch, dass er mich gernhat», sagt sie und lächelt. «Er ist sehr feinfühlig und sehr strukturiert», beschreibt Rägi ihren Liebsten und resümiert: «Wie ein guter Rotwein wird er jedes Jahr besser!»
Michael habe im Umgang mit Menschen viel gelernt, vermeide aber immer noch allzu grosse Nähe. Er wisse inzwischen, dass man kranken Menschen Tee anbietet. «Ich habe aber lieber Kaffee», stellt Rägi klar. «Das muss ich ihm halt sagen.» Seither steht manchmal eine Tasse frischer Kaffee an ihrem Bett. So leben sie gut und gern zusammen. Beide brauchen und schätzen ihren Freiraum. Die Kinder stehen heute fest im Leben und sind unterdessen ausgezogen.
Versuchskaninchen
2015 erkrankt Rägi erneut an Krebs. Sie wird ausgewählt, an einer Studie für neue Heilmethoden teilzunehmen. «Ich hatte nichts zu verlieren – also machte ich mit», sagt sie. In England werden ihre Metastasen entlang des Rückgrats mit Mikrowellenstrahlen behandelt. «Ich wusste, dass ich das vielleicht nicht überlebe», hält die schlanke Frau fest. Aber sie erholt sich. Als sie einmal zur Gruppe der Krebsforschenden ihrer Studie sprechen darf, erklärt sie ihnen: «Es ist Gott, der über meinem Leben wacht. Ohne ihn könnte ich keinen Schritt tun.» Immer wieder wird die tapfere Frau zu Ärztekongressen eingeladen, um die Fortschritte der neuen Methode leibhaftig zu demonstrieren. Nicht jeder der Eingriffe verläuft komplikationslos. Einmal wacht Rägi nicht mehr aus der Narkose auf. Sie hatte darum gebeten, auf Reanimationsmassnahmen zu verzichten. Eine Pflegefachfrau informiert jedoch Rägis Freunde über den kritischen Zustand. Und diese bestürmen den Himmel. Verschiedene Gebetsketten reihen sich aneinander und nach einer halben Stunde schlägt Rägi die Augen auf.
Fotos von den Füssen
«Ich lasse mich von meiner Krankheit nicht runterziehen», bekräftigt sie. «Gottes Gnade gilt bis zuletzt. Und er schaut gut zu meinem inneren Menschen». Täglich spritzt sich Rägi ihre Chemo-Medikamente selbst. Wenn es ihr schlecht geht und sie im Bett bleibt, schickt sie ihrer Gebetsgruppe und Freunden über WhatsApp ein Foto ihrer Füsse. «Dann wissen sie, dass ich flachliege und beten für mich.»
Sie spricht stets offen und klar über ihre Krankheit und ihren Zustand: «Oft sieht man mir nichts an, wie soll es mein Umfeld sonst wissen?!» In guten Zeiten ist Rägi zweimal pro Woche auf der Curly Ranch anzutreffen. Hier betreut sie die Alpakas, leitet Reitlager, unterhält sich mit Jugendlichen über den Glauben und packt überall an, wo man sie braucht. Um einen Rückzugsort zu haben, hat sie sich einen Bauwagen hergerichtet. Dort liest sie in der Bibel, betet, schläft und reflektiert ihre Gespräche mit den jungen Menschen.
Humor versus Schmerz
Vor sechs Jahren hat sich Rägi entschieden, keiner bezahlten Arbeit mehr nachzugehen, sondern die ihr verbleibende Zeit für Gott einzusetzen. Seither hat sie für die Aufführungen von Schülern Theaterkulissen gebaut, Reiten gelernt und sich zur Reittherapeutin ausbilden lassen.
Mit Pinsel und Farbe hantiert Rägi besonders gern, verwandelt Fuhrpark und Gerätschaften auf dem Hof in afrikanische Felltiere wie Zebra und Giraffe, zaubert aus Feuerlöschern Sauerstoffflaschen. «Man muss auch lachen können», findet sie, und guckt schelmisch. Im Spital hat sie gelernt, Mentaltraining anzuwenden, wenn die Schmerzen stark werden. «Ich schaue auf Jesus und verbinde mich mit ihm, dann geht’s», hält sie fest.
Dass sie ständig an der Schwelle zum Tod steht, erschüttert Rägi nicht mehr. «Niemand weiss, wann seine Stunde kommt, auch Gesunde nicht.» Regula Schink ist überzeugt, dass ein wunderbares, neues Leben bei Jesus auf sie wartet, wo sie gesund sein wird. «Dieser Fokus nach oben hilft mir, das zu sehen und zu tun, was wirklich wichtig ist.»