Ein Platz in der Herberge
Der 22-jährige Philippe wirkt noch sehr jung. Er erzählt, dass es in seinem Heimatland Burundi seit Langem einen ethnischen Krieg zwischen Hutu und Tutsi gibt. Das Hutu-Regime setzte gewaltsam eine dritte Amtszeit durch, wogegen sich die Bevölkerung der Tutsi wehrte. Die Hutu-Regierung rächte sich daraufhin an jungen Tutsi, die angegriffen, unterdrückt, misshandelt oder getötet werden. Die Polizei untersteht dem Hutu-Regime, sodass Korruption und Gewalt an der Tagesordnung sind. «Ich kann nicht aufzählen, wie viele schreckliche Dinge ich in meinem Heimatland erlebt habe, bevor ich es verlassen konnte», erklärt der junge Mann mit trauriger Stimme. «Aber Gott sei Dank lebe ich noch», fügt er leise hinzu.
Von den Geschwistern getrennt
Er floh mit seinen beiden älteren Brüdern und seiner Schwester. Der Weg in die Schweiz stellte sich für ihn als eine Flucht mit weiteren traumatischen Erlebnissen heraus. In Ägypten wurden seine Schwester und er von den grossen Brüdern getrennt und mussten zu zweit weitergehen, ohne zu wissen, ob sie ihre Geschwister jemals wiedersehen würden. Noch schlimmer sei die Misshandlung in Kroatien gewesen: «Wir waren mit mehreren zusammen, als sie plötzlich Schüsse abfeuerten. Sie trennten Frauen und Männer und schlugen uns mit Stöcken. Plötzlich waren mir all die Gräueltaten, die ich in Burundi erlebt hatte, wieder vor Augen, und ich verlor das Bewusstsein.» Als er das Bewusstsein wiedererlangte, geriet er in Panik, weil seine Schwester nicht mehr bei ihm war. «Ich finde keine Worte, um die Situationen zu beschreiben, die ich gesehen und am eigenen Körper erlebt habe, weil sie so schrecklich waren.» Der emotionale, verbale und körperliche Missbrauch brachte ihn an den Rand seiner Kräfte. Gott sei Dank habe er schliesslich seine Schwester wiedergefunden.
Ständige Angst vor Wegweisung
Philippe lebt seit etwa einem Jahr mit seiner Schwester in der Schweiz. Seine Brüder sind mittlerweile auch angekommen – allerdings in der Westschweiz. Seine Geschwister müssen nicht nach Kroatien zurück, weil sie dort Missbrauch und Gewalt erlebt haben. Er selbst erhielt einen negativen Bescheid, obwohl er dasselbe erlebt hat. Sein Anwalt legte Berufung ein, der Entscheid steht noch aus. Daher lebt Philippe in ständiger Angst, dass er nach Kroatien zurückgeschickt wird. Am Anfang waren seine Schwester und er zusammen im Bundesasylzentrum. Das war eine grosse Hilfe für ihn – vor allem, als sie erfuhren, dass ihr Vater ermordet worden war. Obwohl sie beide inständig darum baten, zusammenbleiben zu dürfen, trennte man die Geschwister. Seine Schwester wurde in einen weit entfernten Kanton gebracht.
Wertvolle Kontakte zu Einheimischen
Im Bundesasylzentrum lernte Philippe das Asylseelsorge-Ehepaar kennen. Er und andere junge Menschen aus Burundi baten die Seelsorgenden, mit ihnen in der Bibel zu lesen, zu singen und zu beten. Aus diesen Begegnungen erwuchs der Wunsch, gemeinsam einen Gottesdienst in der Kirche zu gestalten. Es herrschte Gänsehaut-Atmosphäre, als 15 junge Burundis – mit Philippe* am Klavier – gemeinsam mit der Gemeinde das Lied «Waymaker» sangen und Freude im Raum verbreiteten. «Mein Vater war Pastor und ich habe immer gerne in der Kirche mitgearbeitet. Ich nutze die Begabungen, die Gott mir geschenkt hat, um ihm zu dienen», sagt Philippe bescheiden, als er für sein grandioses Klavierspiel gelobt wird. Der «Burundi-Chor» wurde noch von einer anderen Kirche eingeladen und trat bei der Weihnachtsfeier im Bundesasylzentrum auf, bevor die meisten Teilnehmenden entweder einen negativen Bescheid bekamen oder anderswo in der Schweiz verteilt wurden. Philippe blieb im Kanton Thurgau, wo er mit Christen vor Ort vernetzt wurde. In Gottesdiensten, beim Männersport und anderen kirchlichen Angeboten lernte er viele Schweizerinnen und Schweizer kennen. Heute lernt er auch mit grosser Freude Deutsch, damit er sich mit Einheimischen nicht nur auf Französisch, sondern auch in deren Muttersprache unterhalten kann.
Leben im Bunker
Herausfordernd war die Unterbringung in einer Zivilschutzanlage, wo viele gewalttätige Männer waren. Es gab ständig Kämpfe unter den Bewohnern, die Philippe Angst machten und ihn an die Gewalttaten in Burundi erinnerten. Die Asylseelsorge setzte sich dafür ein, dass er in einem anderen Haus untergebracht wurde. Dort kann er nun in Ruhe Deutsch lernen oder Gitarre spielen.
Glaube und Familie geben Halt
Die Unsicherheit, ob er in der Schweiz bleiben darf, und die Entfernung zu seinen Geschwistern machen dem jungen Mann zu schaffen. So versucht er, möglichst oft im Wald zu arbeiten, um genug Geld für Zugfahrten zu seinen Geschwistern zu sparen. Er erlebt aber auch vor Ort Momente des Glücks: «Ich bin gerne in der Kirche und ich freue mich riesig, wenn ich Besuch bekomme und die Leute mich fragen, wie es mir geht.» Es war ein besonderes Highlight für ihn, als er im Gottesdienst in einer Band Gitarre spielen und anschliessend den Tag mit der Pfarrfamilie verbringen durfte.
Glaube und Familie seien sehr wichtig für ihn. «Ich weiss nicht, wo ich heute wäre, wenn ich nicht meinen Glauben hätte», gesteht Philippe. Krisen könne er am besten überwinden, wenn er sich Gott anvertrauen würde und im Kreise seiner Geschwister oder anderer Christen sei. Er fühle sich in der Schweiz und unter Schweizern sehr wohl. Er hat seinen «Platz in der Herberge» gefunden, wenn da nicht noch das Damoklesschwert der ausstehenden Entscheidung über ihm hängen würde, ob er in der Schweiz bleiben darf oder nicht.
*Philippes richtiger Name wird aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht genannt.
(K)ein Platz in der Herberge
In der Geschichte von Philippe* lesen wir, wie schwierig es ist, Schutz und Geborgenheit in dieser Welt (Platz in der Herberge) zu finden. So erging es auch den Eltern von Jesus vor gut 2000 Jahren. Die Geschichte kann in der Bibel im Lukas-Evangelium, Kapitel 2 nachgelesen werden: «So reiste Josef von Nazareth in Galiläa nach Bethlehem in Judäa, der Geburtsstadt von König David. […] In Bethlehem kam für Maria die Stunde der Geburt. Sie brachte ihr erstes Kind, einen Sohn, zur Welt. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Futterkrippe im Stall, denn im Gasthaus hatten sie keinen Platz bekommen.»
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