Kommentar

Die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit?

Wahrheit

Mit dem Internet ist eine neue Form der Öffentlichkeit möglich geworden. Informationen sind für jeden schnell und kostenlos zugänglich. Das 2006 gegründete Internetportal Wikileaks (englisch «leak» für Leck, undichte Stelle) nutzt das Internet und publiziert geheime Dokumente über öffentliche Angelegenheiten. In diesen Tagen befassen sich Botschaften, Politiker, Regierungsstellen und Medien mit Inhalten und Zitaten aus 250.000 Dokumenten des US-Aussenministeriums.

Das Internetportal Wikilekas hält seine Arbeit für einen Dienst an der Demokratie. Demgegenüber meint Cem Özdemir, der Vorsitzender der deutschen Partei Bündnis90/Die Grünen, Wikileaks habe mit der Veröffentlichung geheimer diplomatischer Dokumente «eine Grenze überschritten, die unserer Demokratie insgesamt nicht gut tut».

Wikileaks argumentiert, dass die Veröffentlichung der Dokumente der Wahrheit dient. Doch das kann man auch anzweifeln. Denn es bleibt für jeden Leser bzw. User völlig unklar, welches Gewicht eine Mitteilung hat und welche Wirkung sie auf Entscheidungen und Entwicklungen hat. Was ist mit all den Depeschen und Notizen, die nicht veröffentlicht wurden (weil sie nicht zugänglich waren) und ganz andere Inhalte haben?

Ein wirklich vollständiges Bild der Wirklichkeit käme selbst dann nicht zustande, wenn man alles Schriftliche zu einem Sachverhalt ins Netz stellen könnte, was selbstverständlich nicht möglich ist. Und selbst wenn es möglich wäre, könnte man die Menge der Informationen nicht mehr überschauen und lesen. Insofern ist das Publizierte nur eine Teil-Wahrheit und erweckt nur den Anschein der totalen Transparenz und Wahrheit.

Ein wirklich sachgerechtes und eindeutiges Bild eines Sachverhaltes lässt sich selbst nach grossem zeitlichen Abstand, der Öffnung streng geheimer Quellen und jahrelanger Forschungen nicht erstellen. Das zeigt die Praxis der historischen Forschung, die bei bei konkreten Fragestellungen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommt.

Damit soll nicht gesagt werden, dass keine Dokumente via Internet veröffentlicht werden soll. Auch das gehört zur Kontrollfunktion der Medien in einer Demokratie und das ist gut so! Aber die, die diese Arbeit machen, sollten nicht den Eindruck erwecken, als wären sie im Besitz der (ganzen) Wahrheit.

Die Publikation der Papiere geschieht - unausgesprochen - von einer kaum zu ertragenden moralisch hohen Warte. Man erhebt sich zum Richter über all die Schwächen, Halbwahrheiten, Vorurteile und Fehlurteile von anderen. Menschen und ihre Fehlleistungen werden so auf moderne Weise an den Pranger gestellt, ohne dass man sich die Mühe macht, sich mit dem Sachverhalt genauer auseinanderzusetzen.

Eine absehbare Konsequenz der jüngsten Ereignisse wird sein, dass Beobachtungen, Vermutungen und Planungen nicht mehr so ohne weiteres von aussen zugänglich sein werden. Man wird besondere Zirkel der Information etablieren, zu denen nur Ausgesuchte Zugang haben.

Viele der Informationen, die aus den Depeschen des US-Aussenministeriums bekannt wurden, bewegen sich ohnehin auf dem Niveau des Boulevards. Unter dem Vorwand der Transparenz werden Mitteilungen öffentlich, die nichts anderes als Lästereien und Vorurteile zum Inhalt haben.

Es ist so, als wenn man jemandem zuhört, der gerade über einen anderen herzieht. Das ist einfach nur pure Klatschpresse via Internet. Dass das auf Interesse stösst, ist keine Frage. Aber wem oder welchem Zweck dient das? Doch wohl zuallererst der Neugier und der Schadenfreunde.
 

Datum: 11.12.2010
Autor: Norbert Abt
Quelle: Livenet.ch