Wie bleibt man eigentlich im Haus des Herrn?

Der Autor dieses Beitrages hat viel über einen besonderen Vers nachgedacht.
Es gibt Bibelverse, die «schwingen so mit». Man hört und liest sie immer wieder, bis man sie schliesslich wirklich liest. Eine dieser Aussagen war für Livenet-Redaktor Hauke Burgarth ein bekannter Psalmvers über das Bleiben im Haus des Herrn.

«Danke», sagte ich, als ich die Karte mit dem Bibelvers darauf in die Hand bekam, und legte sie erst einmal zur Seite. Es war ein «alter Bekannter», Psalm 27, Vers 4: «Eines erbitte ich von dem Herrn, nach diesem will ich trachten: dass ich bleiben darf im Haus des Herrn mein ganzes Leben lang, um die Lieblichkeit des Herrn zu schauen und ihn zu suchen in seinem Tempel.» In vielerlei Hinsicht ist es ein sehr typischer Vers: Er klingt etwas altertümlich – in meinem normalen Leben «trachte» ich nicht mehr und «Lieblichkeit schauen» tue ich auch nur selten. Durch jahrelangen Umgang mit der Bibel hört er sich dennoch vertraut an und erzeugt bei mir eine gewisse Grundgeborgenheit. Aber als ich genauer hinschaue, merke ich, wie die Vertrautheit darin sich auflöst. Weiss ich eigentlich, worum es hier geht? Und will ich dasselbe wie David, der diesen Gedanken geäussert hat?

Haus des Herrn – was ist denn das?

Livenet-Redaktor Hauke Burgarth

Ich lese den Vers noch einmal, und ich lese auch die Nachbargedanken in Psalm 27. Dabei stolpere ich zunächst einmal über den Ort. David soll diesen Psalm geschrieben haben, und er spricht hier davon, dass er Gott in seinem Tempel sucht. War da nicht was? Richtig: Zu Davids Zeit gab es noch gar keinen Tempel, den baute erst Salomo, sein Sohn. Es liegt auch nicht an der Übersetzung und eigentlich steht hier «Stiftshütte» oder «Zelt», sondern es ist – wie übrigens oft in den Psalmen – vom Tempel, dem Haus Gottes oder seinem Palast die Rede.

Dieser kleinen Ungereimtheit folgt gleich eine noch grössere. Egal ob die Wände aus Stein oder Zeltbahnen waren: David durfte nicht hinein, um den «Herrn zu schauen». Denn selbst für Könige wie ihn stand davor das Schild «Betreten verboten!». Bis auf die Priester durfte niemand wirklich hinein. Ist das ein Problem? Nein, absolut nicht. Es sei denn, ich möchte diesen Vers krampfhaft wörtlich verstehen, aber offensichtlich spielt der Psalmschreiber mit dem Bild vom Zuhausesein, von Heimat und vor allem Geborgenheit. So überträgt übrigens auch die moderne Volxbibel den Vers: «Ich bin Bewohner seines Hauses, dort für immer geborgen. Denk' nach über seine Freundlichkeit, die bleibt, auch morgen.»

Mein erster Wunsch

Mein nächster Blick fällt auf den Anfang. Da klingt es so, als ob David meint: Wenn ich bei Gott einen Wunsch frei hätte, dann würde ich mir genau das hier wünschen. Wow, das ist mal eine Ansage! Der Wunschkatalog, den man haben könnte (und den ich oft habe), sieht anders aus: Einfluss, Geld, Gesundheit, Frieden… Da fällt mir vieles ein. Immer in Gottes Nähe sein und seine Freundlichkeit erkennen, ist da etwas Besonderes. Warum wünscht sich David ausgerechnet das? Vieles andere hat er selbst in der Hand. Oder er nimmt es ein Stück weit als gegeben hin. Aber eine lebenslange Möglichkeit zur Direktaudienz beim grössten König – da kann er nicht widerstehen. Das mag zunächst einmal archaisch klingen, aber es ist für mich persönlich hilfreicher als die schnelle «Übersetzung» ins neutestamentliche Denken hinein. Lauren McKeithen schreibt in einem Artikel über diesen Vers, dass laut Paulus «jeder, der Jesus als seinen Herrn und Retter annimmt, selbst ein Tempel des Heiligen Geistes wird, in dem Jesus lebt». Auch ein schöner Gedanke, doch in diesem Zusammenhang hier scheint mir die Idee hilfreicher zu sein, zu Gott hingehen zu können, in seinen Einflussbereich, und dort für immer Zugangsberechtigung zu haben. Diesen Gott quasi in mir drin (dem Tempel des Geistes) zu suchen, ist ein völlig anderes Bild.

Ein Zuhause inmitten von Chaos

David war kein Weltflüchter. Er stellte sich den Auseinandersetzungen seiner Zeit – Krieg, Krankheiten, Versagen, Schwierigkeiten mit liebenswerten und nicht besonders liebenswerten Menschen. Trotzdem betont er in diesem ganzen Psalm die Wichtigkeit eines inneren Rückzugs. «Wenn Übeltäter mir nahen, um mein Fleisch zu fressen» (Vers 2), sucht er den «Schutz seines [Gottes] Zeltes» (Vers 5). Er sucht Gottes Gegenwart. Er möchte sich prägen lassen von dessen Freundlichkeit. Und er will diese Gedanken festhalten «sein Leben lang». Dazu war schon zu Davids Zeiten kein Gebäude nötig – und das ist es heute auch nicht. Das Haus des Herrn war nie der Tempel und es ist auch nicht meine Kirche, egal wie schön die Buntglasfenster darin sind.

Für mich bietet dies eine Perspektive, die ich in meinen Alltag mitnehme: Ich bewege mich im Bereich Gottes, in dem Gebiet, wo er als Hausherr die Atmosphäre und das Miteinander prägt. Und in dem Masse, wo ich mir das bewusst mache – wo ich «ihn schaue» und «ihn suche» –, wächst das Gefühl der Geborgenheit in meinem Leben. «Der Herr ist mein Licht und mein Heil, vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Kraft, vor wem sollte mir grauen?» (Psalm 27, Vers 1)

Zum Thema:
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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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