«Ich möchte, dass es mir schlechtgeht!»

Alles nur positiv oder nur negativ zu sehen ist heikel.
Wem es immer gutgehen muss, dem geht es dadurch schlecht. Tatsächlich macht es krank, wenn man meint, «im Glauben» alles positiv sehen zu müssen.

«Ich möchte, dass es mir schlechtgeht!» Mit dieser Aussage überraschte eine Patientin den Psychotherapeuten Thomas Prünte beim Erstgespräch. Sie erläuterte ihre Erwartungen: «Ich möchte, dass es mir schlechtgehen darf. Von Kindesbeinen an hatte ich gute Laune zu haben, sollte mich nicht so anstellen und der Sonnenschein meiner Familie sein. Das hat mich krank gemacht.»

In seinem Beitrag in «Psychologie heute» beleuchtet Prünte diesen gesellschaftlichen Druck, das Positive zu sehen. So sinnvoll es ist, nicht ins andere Extrem zu verfallen und Dinge prinzipiell schwarzzumalen, so schwierig ist es, allem etwas Positives abgewinnen zu müssen. In der Psychologie wird dieses weit verbreitete Phänomen als «smiley sickness» oder «toxic positivity» bezeichnet.

Der kurze Weg zum nächsten Bibelvers

Diese Art des Schönredens von Schwierigkeiten ist eine gesamtgesellschaftliche Erscheinung. Jahrzehntelang wurde positives Denken als Allheilmittel propagiert. «Lade dein Glück ein, dann kommt es zu dir», hiess es. Das ist zwar verkürzt, aber es hört sich gut an. In den sozialen Medien wie zum Beispiel bei Instagram kommt die Philosophie «good vibes only» dazu. Zugelassen sind nur positive Gefühle. Nun steht es ausser Frage, dass eine positive Grundhaltung Stress reduziert, manchen Erkrankungen vorbeugt und sogar lebensverlängernd wirkt, wie die renommierte Mayo-Klinik erforschte. Ein komplettes Ausblenden schlechter Gefühle ist allerdings keine tragfähige Lösung. Die Online-Philosophin Bobo Matjila unterstreicht sogar: «Wer wenig Geld hat oder gerade eine schwere Lebensphase durchmacht, hat sicher auch mal ‘schlechte Vibes’. Durchgehend ‘gute Vibes’ gibt es nur, wenn man so fern von der Realität lebt, dass man mit keiner ihrer Schwierigkeiten konfrontiert wird.» Für sie ist diese Realitätsflucht sogar die Folge einer Abwendung vom christlichen Glauben: «Als einige aus unserer Generation dem Christentum den Rücken kehrten, weil es sich veraltet und erdrückend anfühlte, ersetzten wir es einfach durch eine viel heimtückischere Religion, die uns Hoffnung gab. Sie verspricht uns, wir könnten sogar in Zeiten von Wirtschaftskrise und Spätkapitalismus Wohlstand ansammeln, wenn wir nur positiv bleiben und an uns glauben.»

Eine toxische Positivhaltung gibt es allerdings auch bei christlich geprägten Menschen. Hier hört sie sich nur frommer an. Nach Misserfolgen oder bei Krankheiten heisst es dort schnell: «Verglichen mit den wirklichen Problemen der Welt ist das gar kein grosses Drama.» Oder es wird Römer, Kapitel 8, Vers 28 zitiert: «Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen.» Damit ist das Gespräch beendet und das jeweilige Leid sollte es auch sein, denn wer wollte schon dagegensetzen: «Bei mir ist das anders…»?

Aushalten und Mitleiden

Nun geht es nicht darum, dass Verse wie der oben zitierte nicht zutreffen würden: Sie sind nur nicht dazu gedacht, sie Leidenden als erste Reaktion an den Kopf zu werfen und zu meinen, dass das Problem damit gelöst sei. Der schwierigere Weg ist es, Lasten erst einmal auszuhalten, sie mitzutragen und einfach dazubleiben. Das war das, was Hiobs Freunde taten, bevor sie meinten, ihn kritisieren zu müssen, weil sie mit seinem Leid nicht umgehen konnten. «Dann setzten sie sich zu ihm auf den Erdboden sieben Tage und sieben Nächte lang, und keiner redete ein Wort mit ihm; denn sie sahen, dass sein Schmerz sehr gross war.» Das ist es, was bis heute Kranken, Beladenen und Leidenden hilft. Viele denken: Gib mir keine Spruchpostkarte, sondern halt meine Hand fest. Man braucht auch nicht die «richtigen» Worte finden. Ein zu schnelles Antworten auf die Probleme, eine direkte Lösungsorientierung ist hier toxisch. Sie hören sich gut an, legen aber eine zusätzliche Last auf die leidende Person. «Wenn du wirklich glauben würdest, dann müsste es dir jetzt besser gehen», schwingt dann mit. Und wehe, das ist nicht der Fall…

Realistische Sicht

Die Bibel berichtet von Menschen, die wunderbar geheilt wurden. Und sie erzählt von solchen, die krank wurden und starben oder sogar ermordet wurden. Meistens hat der Ausgang nichts mit dem Grad ihres Glaubens zu tun. Das Spannende an den Geschichten, Gedanken und Gedichten in der Bibel ist, dass sie grundsätzlich positiv sind, aber Schwierigkeiten beim Namen nennen und aushalten – und sie nie wegerklären. Die Bibel wäre recht dünn, wenn man die prophetischen Bücher darin auf ihre positiven Gedanken reduzieren, die Ermahnungen der neutestamentlichen Briefe streichen oder die Klagepsalmen weglassen würde. König David verbreitet extrem schlechte «vibes», wenn er in Psalm 22 klagt: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» Jesus wird lange Zeit später diese negativen Gedanken am (negativen) Kreuz wieder aufnehmen – und sie nicht durch ein schnell nachgeschobenes: «Ist ja alles nicht so schlimm!» relativieren.

Zur Realität des Glaubens gehört die Hoffnung. Doch das bedeutet nicht, dass wir als Christen nach dem Tod eines geliebten Menschen sofort zum Schluss kommen müssten, dass das Ganze letztlich positiv zu bewerten sei. Wir dürfen klagen, leiden, trauern und müssen weder für uns selbst noch für andere «positive vibes» verbreiten. Thomas Prünte schliesst seinen Artikel sogar mit der Idee: «Ich plädiere dafür, die ‚unguten Gefühle‘ ins emotionale Weltkulturgut aufzunehmen.»

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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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