Wie eine heilsame Vollbremsung mich rettete

Von der Wasserquelle trinken
«Es geht nicht mehr.» Mehr bekommt Brigitte Seifert nicht raus. Ihr Seelsorger legt eine dreimonatige Auszeit nahe. Es scheint unmöglich - doch weiterarbeiten ist auch keine Option. Dann öffnen sich die Türen und sie findet Quellen zum Auftanken.

«Sie müssen weg. Ein Vierteljahr. Möglichst noch in diesem Semester», sagt mein Seelsorger am Telefon. «Das geht doch gar nicht!», ist mein erster Gedanke. Die mündlichen Examensprüfungen stehen an. Ich bin Dozentin an einer kirchlich-theologischen Fachschule. Zwei jungen Paaren habe ich versprochen, sie zu trauen. Die Einrichtung, in der ich eine verantwortliche Stellung innehabe, hat mit verschiedenen Krisen zu kämpfen… Nein, es geht einfach nicht, für längere Zeit weg zu sein. Tief im Inneren jedoch weiss ich: Der Seelsorger hat recht. Viel zu lange habe ich über meine Kräfte gelebt. Über zwei Jahre war die Stelle des Leiters vakant; ich habe ihn vertreten – zusätzlich zu meinen anderen Aufgaben. Die Suche nach einem Nachfolger gestaltete sich überaus schwierig. Immerhin, nun ist die Stelle wieder besetzt mit einem Ehepaar. Aber die beiden sind noch neu, brauchen Einarbeitungszeit. Ich spreche mit ihnen über den Rat meines Seelsorgers. Sie wollen mich unterstützen und eine Auszeit für mich ermöglichen.

Raus? Geht doch nicht! Doch!

Aber wie soll die aussehen? Eine Kur? Nein, das ist es nicht. Mehrwöchige Exerzitien in einer Gruppe? Auf keinen Fall! Christliche Gruppen habe ich genug. Irgendeine Privatunterkunft als Rückzugsort? Da wäre zu wenig Struktur. Mitleben in einem Kloster? Das wäre es! Durch mein berufliches Netzwerk habe ich Kontakte zu verschiedenen geistlichen Gemeinschaften. Ich recherchiere mehrere Möglichkeiten, prüfe die Konditionen – es muss ja auch bezahlbar sein! Und spüre nach innen: Was brauche ich? Meine Seele freut sich offenbar, dass sie endlich gehört wird, und antwortet prompt: Keine Leute, die etwas von mir wollen. Bewegung an frischer Luft. Ruhe. Gottes Nähe ohne Stress. Schönheit wäre auch nicht schlecht.

Ich trage dem Vorsitzenden des Vorstands mein Anliegen vor. Er ist aufgeschlossen. Andere aber finden die Idee überhaupt nicht gut. Verständlich. Pflichterfüllung bis zum Umfallen heisst die Devise. Auch ich habe sie verinnerlicht. Der Vorsitzende nennt mir etwas später Bedenken, die andere geäussert haben, zum Beispiel: Ein Klosteraufenthalt sei doch gar nicht gut für mich, da würde ich nur grübeln. So ein Quatsch! Wieso meinen sie, besser als ich zu wissen, was für mich gut ist? Von dem Vorwurf, ich dürfe doch die anderen nicht im Stich lassen, sagt er mir wohlweislich nichts. Erst später erfahre ich davon; gespürt habe ich es ohnehin. Bei diesem Gespräch mit dem Vorsitzenden habe ich – wie so oft in letzter Zeit – starke Kopfschmerzen und sage nur den einen Satz: «Es geht nicht mehr.» Er genehmigt die Auszeit. Fünf Wochen Kloster, anschliessend Jahresurlaub.

Ich kaufe mir ein leichtes Faltrad, das ich gut in meinem Kleinwagen transportieren kann. Und komme an einem Montag Anfang Juni 2002 im Kloster Barsinghausen an. Dort lebt eine kleine evangelische Kommunität. Dank der Klosterkammer kann die Gemeinschaft Menschen wie mir einen Aufenthalt für 12 Euro pro Tag ermöglichen.

Wohltuend und wunderbar

Ich betrete die Vorhalle – und atme auf. Wohltuende Stille umfängt mich, gefüllt mit Heiligem Geist, wie mir scheint. Die Äbtissin, Sr. Barbara, zeigt mir mein Quartier. Es ist eine richtige kleine Wohnung. Wunderbar! Die Flure sind hell und geräumig. Überall Blumenschmuck. Ein Kellerraum wurde umgestaltet zur Gebets­kapelle. Ständig leuchtet die Kerze vor einer der beiden Ikonen, geschützt in einem Windlicht. Frische Blumen auch hier. Schön und liebevoll bereitet ist der Ort des Gebets – ein heiliger Raum. Ich nehme an der Vesper teil und lasse mich tragen von der liturgischen Ordnung. Es fällt mir leicht, mich hineinzufinden. Die gregorianischen Gesänge helfen, auch innerlich zur Stille zu finden. Die Schwestern singen leicht und beweglich.

Abends und mittags esse ich mit ihnen gemeinsam. Während die Mittagsmahlzeit schweigend eingenommen wird, meist mit leiser Musik im Hintergrund, ist das Abendessen zugleich eine Zeit des Austauschs. Anschliessend schauen wir miteinander die Nachrichten, bevor wir uns zum Nachtgebet auf die Empore der Klosterkirche begeben. Zum Frühstück bleibt jede für sich. Mir ist das recht.

An vier der fünf Tagzeitengebete nehme ich teil. Nur morgens um 6.00 Uhr lasse ich die Schwestern alleine beten. Die klare Tagesstruktur erlebe ich als wohltuend. Für mich ist es genau das richtige Verhältnis von Freiraum und gemeinsamer Zeit. Die Schwestern lassen mich in Ruhe, ohne mich allein zu lassen. Ich bin geborgen in ihrer Mitte – und in der Gegenwart Gottes, für die sie mit ihrem Leben und ihren Gebeten den Raum bereiten.

Ein wenig arbeiten muss ich doch. Examensklausuren sind zu bewerten. Dabei sitze ich öfter im Innenhof des Klosters, ein wunderbar geschützter Garten. Den Herausgebern der Göttinger Predigtmeditationen habe ich einen Beitrag zu Johannes Kapitel 12, Verse 12-19 zugesagt, dem Einzug Jesu in Jerusalem. Der vierte Evangelist erzählt auf ganz eigene Weise davon. Man spürt regelrecht die Spannung, die in der Luft liegt. Die Begeisterung, mit der das Volk Jesus empfängt, ist mit unheimlich hohen Erwartungen verbunden. Jesus wird sie enttäuschen. Schweigend reitet er auf einem kleinen Esel in die Stadt, um zu zeigen, wer er in Wahrheit ist. Niemand versteht ihn. Er ist allein inmitten der jubelnden Menge. Während ich an dem Manuskript arbeite, kommt er mir nahe. Ich empfinde mit ihm den Erwartungsdruck, die Einsamkeit, das Unverstandensein – Gefühle, die ich so gut kenne. Jetzt kann ich sie mit ihm teilen.

Brigitte Seifert

Heilsame Brunnenentdeckungen

Nur maximal zwei Stunden täglich widme ich diesen Aufgaben. Die meiste Zeit zwischen Gebeten und Mahlzeiten bin ich unterwegs mit meinem kleinen Fahrrad. Ich radele bergauf, bergab über den Deister, einen bewaldeten Gebirgszug nahe der Stadt, oder um ihn herum, fahre querfeldein, erkunde die umliegenden Ortschaften – und lasse mich überraschen. Der Wind weht mir um die Nase, die Sonne treibt Schweisstropfen auf die Stirn, ab und an werde ich von einem Regenschauer durchnässt. Das Gefühl von Freiheit und Weite stellt sich ein. Ich entdecke viel Schönes, Interessantes, Inspirierendes.

Fasziniert bin ich von den verschiedenen Brunnen in Barsinghausen und Bad Nenndorf. Sie werden mir zum Gleichnis, besonders einer von ihnen. Er ist ausgetrocknet – ein Spiegel meines gegenwärtigen Erlebens.

Gern verweile ich allein in der Gebetskapelle. Dabei wird viel Schmerz und Trauer angerührt. Aber es tut gut. Ich spüre Jesu Nähe. Immer wieder spricht er mir seine Liebe zu, ganz direkt in meine Gedanken.

Sr. Barbara führt mich zu einem ihrer Lieblingsorte, einer Quelle im Wald. Dort ist ein Schild angebracht: «Die Quelle bitte sauberhalten.» Das sieht sie als Auftrag für ihren Dienst als Äbtissin. Zudem nennt sie mir fünf Regeln für das kontemplative Leben:

1. Ausreichend Schlaf

2. Ausreichend Bewegung an frischer Luft

3. Gebet

4. Begegnungen, die zum Leben helfen

5. Arbeit

Selber zur Quelle werden

Für meine Zeit in Barsinghausen ist diese Balance absolut gelungen. Das Leitmotiv (nach Maria Ward) am Ziehbrunnen im Klosterhof Barsinghausen geht mit: «Unsere Häuser werden Brunnenhäuser sein, in denen das Wasser fliesst, nicht verschlossen, sondern offen. Ich wünsche, dass viele kommen und trinken und selber Quellen des Lebens werden.»

In den letzten Tagen meines Aufenthalts geht es mir nicht gut. Der Kopf schmerzt, die Schultern sind verspannt. Ist es die Angst vor der Rückkehr in all das Ungeklärte, Krisenhafte? Wie auch immer, mit Gottes Hilfe werde ich mich dem stellen. Dankbar verabschiede ich mich von den Schwestern. Sie haben mir einen unschätzbaren Dienst erwiesen.

Mehr als 20 Jahre sind vergangen. Noch immer empfinde ich diese Klosterzeit als ein besonderes Geschenk. Sie war Teil eines umfassenden Aufbruchs, der mich drei Jahre später auch äusserlich in neue Arbeitsfelder führte. Nach und nach lernte ich, besser auf meine Grenzen zu achten und sie gegen überhöhte Ansprüche zu verteidigen. Die Formen meiner Spiritualität wandelten sich: weniger Worte, weniger eigenes Tun, mehr Stille, einfach nur da sein vor Gott und empfänglich sein für die Gnade.

Ich betete öfter im Freien, bezog den Leib mit ein. In meinem Dienst suchte ich nach Möglichkeiten, das Evangelium so zu vermitteln, dass nicht nur der Kopf, sondern tiefere Schichten der Persönlichkeit erreicht werden. Das bedeutete, mehr meditative, musische, kreative und bildhafte Elemente einzubeziehen. Mein Leitmotiv blieb der Lebensstrom, der im Heiligtum entspringt, mich selbst belebt und in mir zur Quelle wird (vgl. Hesekiel Kapitel 48; Offenbarung Kapitel 22; Johannes Kapitel 4, Vers 14; Kapitel 7, Vers 37f).

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Autor: Dr. theol. Brigitte Seifert
Quelle: Magazin 3E 03/2024, SCM Bundes-Verlag

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