Einmal China und zurück

Ruth-Andrea Möller
Könnte ich noch mal von Neuem anfangen? Könnte mein Leben ganz anders aussehen? Das fragte sich Ruth-Andrea Möller im Alter von vierzig Jahren. Und dann führte sie ihr Wunsch, doch noch Pastorin zu werden, erst einmal 8'000 Kilometer in die Ferne.

Manche Neuanfänge sind ersehnt, manche gefürchtet. Ich selbst wollte vor etwa 15 Jahren einen Neuanfang. Damals war ich vierzig Jahre alt, arbeitete als Lehrerin und fuhr vom Unterricht mit dem Auto nach Hause. Es war Mittag und ich hatte noch etwas Zeit, bis meine Kinder von der Schule kamen. Die Sonne schien. Es war ein guter Schultag gewesen. Ich war fröhlich und dankte Gott für diesen Vormittag. Ich war gerne Lehrerin und es war einer dieser Tage, an denen ich es genoss, in diesem Beruf zu arbeiten: «Danke, Jesus. Das war ein guter Tag! Danke für deine Gegenwart in der Schule. Danke! Ich bin eine gute Lehrerin.» Während ich so betete, fuhr ich an einer Kirche vorbei. Ich sah das Kreuz auf dem Turm und spontan, und doch nicht völlig überraschend, hörte ich mich beten: «Hach, und ich wäre auch eine gute Pastorin geworden.»

Leidenschaft für Gemeinde

Seit meiner Kindheit spürte ich die Berufung, in die Mission zu gehen. Nachdem ich inzwischen Mutter von zwei Kindern und mit einem Mann verheiratet war, für den «Mission» keine Op­tion war, hatte ich das Thema aber inzwischen im Frieden mit Jesus und mir abgeschlossen. Doch meine Leidenschaft für Gemeinde und meine Gabe, zu lehren und zu predigen, waren natürlich noch da. Nur, dass ich gerade in einer Gemeinde war, in der Frauen nicht leiten und lehren durften. Dieser Seufzer aus der Tiefe meiner Seele war die in meinem Inneren eingesperrte Leidenschaft, die immer noch stark und lebendig war und eine Möglichkeit nach Entfaltung suchte.

«Ich wäre auch eine gute Pastorin geworden.» Dieses Gebet wurde zu einem kurzen Dialog. Ich hörte Jesus antworten: «Das wollte ich ja. Aber du hast einen anderen Weg gewählt.» Hier sprach keine vorwurfsvolle Stimme, sondern ein liebender Freund, der mir mit diesem Satz eine Tür aufstiess und einen Teppich ausrollte, weiterzuschauen als nur bis vor meine Füsse, und über meine gegenwärtige Situation hinauszudenken. Meine Gedanken fingen an zu wandern: Könnte ich noch mal von Neuem anfangen? Könnte mein Leben anders aussehen? Ich mochte meine Gemeinde, aber ich wusste, ich müsste sie verlassen, wenn ich lehren und leiten wollte. Bevor ich zu Hause ankam, machte ich mit Gott Folgendes aus: «Ich kümmere mich um ein Theologiestudium, das ich in mein Leben als berufstätige Mutter integrieren kann. Und du kümmerst dich um eine Gemeinde, in der ich lernen, meine Gaben entwickeln und einbringen kann.»

Neustart in China

Da wusste ich noch nicht, dass diese Gemeinde 8'000 Kilometer entfernt sein würde. Jedenfalls kam einige Wochen darauf mein Mann von der Arbeit nach Hause und fragte mich, ob ich bereit wäre, mit ihm nach China zu gehen. Seine Firma wolle ihn für zwei bis drei Jahre dorthin senden. Mir war sofort klar: Das war die Antwort auf mein Gebet! Und so kam es dann auch. Etwa 18 Monate später erreichten wir als Familie unser neues Zuhause und aus den zwei Jahren wurden fünf. Wir lebten in Hangzhou, etwa 200 Kilometer südlich von Shanghai – also aus chinesischer Sicht fast in direkter Nachbarschaft. Alles war dort anders. Die Entfernungen gross, die Stadt riesig. Immer umgeben von Menschenmengen, alles ist lauter, voller, greller und scheinbar chaotischer.

Anfangs überwog noch der Glanz des Exotischen: das Essen, die Architektur, die Kultur. Wir hatten auch bei allen Angelegenheiten Unterstützung durch die Firma, was Ämter, Versicherungen, Führerschein usw. betraf. Aber nach etwa acht Wochen liess die innere Bereitschaft, Fremdes neugierig und offen zu betrachten, nach. Das Ich-bin-im-Urlaub-Lebensgefühl verging und ich realisierte, dass das nun mein Alltag sein würde. Nicht die Umgebung, nicht das Land war «das Fremde», sondern ich war die Fremde. Ich bin diejenige, die sich hier komisch verhält. Die das Falsche sagt. Die auffällt. Die nicht versteht. Die keine Ahnung hat. Diejenige, die seltsame Entscheidungen trifft, weil man Situationen wie «zu Hause» in Deutschland lösen will. Und die als Ausländerin diskriminiert wird. Dazu die chronische Anspannung: Hat der Taxifahrer verstanden, wohin ich will? Und kann ich ihm vertrauen? Bin ich im richtigen Bus? Was hat die Verkäuferin zu mir gesagt? Wie soll ich dem Friseur klarmachen, was ich will? Wie bestelle ich den Kanister Trinkwasser nach Hause? Die einfachsten Alltagsaufgaben waren mit Stress verbunden, denn die Erfahrungen von gestern projizieren die inneren Ängste auf die Vorhaben von morgen. Klappt es oder nicht? Und wenn nicht – was mache ich und wer kann mir helfen?

Gemeindeleben ganz anders

Und dann die Gemeinde. In Hangzhou gab es eine internationale Gemeinde. Ich weiss nicht, was ich erwartet hatte, aber sicher nicht das, was tatsächlich auf mich zukam. Der Gottesdienst sollte um elf Uhr beginnen. Wir Deutsche waren zehn Minuten früher da – zu diesem Zeitpunkt nahezu die einzigen Besucher. Die Band baute gerade auf und begann zu proben. Der Gottesdienst begann, als die Band endlich soweit war. Ich war überrascht von den vielen anwesenden Afrikanern. Einer von ihnen predigte – laut, lebhaft und in einem afrikanischen Akzent, der für mich kaum zu verstehen war. Alles wirkte chaotisch und improvisiert. Wir sassen auf harten Holzbänken und es war heiss in der jetzt vollbesetzten Kirche.

Kulturschock!

Überfordert von dieser Situation betete ich: «Jesus, ist das jetzt wirklich unsere zukünftige Gemeinde?» Aber dann war da diese leise, aber sehr deutliche Stimme in meinem Inneren, die sagte: «Mir gefällt’s!» Augenblicklich löste sich etwas in mir. Dieser Satz half mir, diese und zukünftige Situationen mit anderen Augen zu betrachten: Wenn Jesus hier ist – dann will ich auch hier sein. Wenn es Jesus gefällt – dann soll es mir auch gefallen. Ich konnte nun Menschen sehen und kennenlernen, die begeistert von Gott waren. Die einen grossen, lebendigen Glauben hatten. Die uns herzlich aufnahmen. Eine fröhliche, hilfsbereite Gemeinschaft. Dieses Wort von Jesus half mir, meine eigenen Vorstellungen davon, «wie ein Gottesdienst sein muss», loszulassen. Neues zu umarmen. Dieses Wort machte mir Mut, mich anzupassen.

Wachsen und lernen

Und so wurde ich Teil einer Gemeinde, in der ich wachsen und lernen durfte. Meine allererste Predigt hielt ich dort, mit meinem noch unvollkommenen Englisch. Ich wurde gefördert und freigesetzt. Ich entdeckte und entwickelte meine von Gott gegebenen Gaben. Ich fand Vorbilder und Mentorinnen. Meine Gemeinde in China und ich wurden uns gegenseitig zum Segen. Im dritten Jahr hatte ich endlich das Gefühl, in China zu Hause zu sein. Mein Chinesisch war nun gut genug für Alltagssituationen und mein Englisch inzwischen fliessend. Ich genoss es, in einer internationalen Community zu sein, sowohl in der Gemeinde als auch durch die Freundschaften, die über die internationale Schule meiner Kinder entstanden waren. Ich studierte Theologie und war in Leitungsverantwortung der Gemeinde. Wir hatten ein Hausmädchen und einen Fahrer. Und Hangzhou ist eine wunderschöne Stadt mit einem See und viel Grün. Rückblickend auf diese Jahre bin ich immer noch sehr dankbar für diese wirklich gute Zeit in meinem Leben. Trotz allen Herausforderungen, die natürlich nicht aufhörten.

Verändert zurück

Nach fünf Jahren kehrten wir wieder nach Deutschland zurück. In die gleiche Stadt, in das gleiche Haus. Aber alles war anders als früher. Zwar hatte sich München nicht verändert, doch wir waren nicht mehr die gleichen. Vieles von dem, was wir vor China hier getan hatten und mochten, und vor allem wie wir es damals getan hatten, funktionierte nach der Zeit in China nicht mehr. Unsere Familienstruktur war anders: Die Kinder waren grösser, der Älteste begann ein Studium in einer anderen Stadt. Das Lieblingsrestaurant gefiel uns nicht mehr. Die alte Gemeinde passte nicht mehr. Damalige Freunde waren umgezogen oder Beziehungen hatten sich über diese Zeit nicht aufrechterhalten können. Wir kamen zurück in unser altes Zuhause und mussten ganz neu anfangen.

Das war ein Kulturschock der anderen Art, auf den uns niemand vorbereitet hatte. Aber auch diesmal habe ich Gottes Führung in all diesem Durcheinander erlebt. Alles fügte sich irgendwie wundersam. Gott schickte uns die richtigen Menschen über den Weg. Wir fanden bald eine tolle Gemeinde, in der ich als Frau mit meinen Gaben mitarbeiten durfte. Neue Freundschaften entstanden. Nachdem ich meine Masterarbeit geschrieben und mein Studium abgeschlossen hatte, gab ich meinen Lehrerberuf auf und arbeitete in einem Nachbarschaftstreff mit einem Gemeindegründungsprojekt. Gott setzte unterwegs einfach alles um, was er mir als Berufung und Traum in mein Herz gegeben hatte, nämlich Gemeindearbeit und Gemeindegründung. Während ich mich in China noch zweifelnd gefragt hatte, wie das alles zurück in München werden würde, hatte ich hier nun den Eindruck, als würde Gott mir ein Silbertablett mit allen Gebetserhörungen wie ein Geschenk präsentieren und sagen: «Tadaa! Ich habe schon alles vorbereitet!»

So viel gewonnen

Das ist jetzt fast zehn Jahre her. Mit den neuen Aufgaben kamen natürlich neue Herausforderungen und neue Krisen. Auch wenn Abschiede manchmal schmerzhaft und ungewollt und Neuanfänge oft anstrengend sind, gibt es auf dem Weg immer so viel Schönes und Wertvolles zu gewinnen. Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, scheint es mir, dass Gott auch ein Gott der Neuanfänge ist. Ein Problem ist es für ihn jedenfalls nicht. Denn ganz plötzlich öffnet er eine neue Tür und flüstert dann: «Geh ruhig! Ich bin bei dir!» Und ich bin schon gespannt, was als Nächstes kommen wird.

Zum Thema:
Glaube entdecken: Gott persönlich kennenlernen
«Anfangen ist göttlich»: Die Chance eines Neubeginns
Neubeginn gefällig?: Zehn Tipps für den Neuanfang

Autor: Ruth-Andrea Möller
Quelle: Magazin Joyce 01/2024, SCM Bundes-Verlag

Werbung
Livenet Service
Werbung